waren. Ohne wesentliche Gleichberechtigung der verschiedenen Völker ist kein Völkerrecht möglich.
2. Im Mittelalter.
Christenthum.
Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entscheidend auf, die christliche Kirche und die germanischen Fürsten und Völker. Haben etwa diese Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?
In der That leuchten manche christliche Ideen der Bildung des Völkerrechts vor. Das Christenthum sieht in Gott den Vater der Menschen, in den Menschen die Kinder Gottes. Damit ist die Einheit des Menschen- geschlechts und die Brüderschaft aller Völker im Princip anerkannt. Die christliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbstgerechtigkeit und fordert Demuth, sie greift die Selbstsucht in ihrer Wurzel an und verlangt Entsagung, sie schätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrschaft über Andere. Sie entfernt also die Hindernisse, welche der Gründung eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchstes Gebot ist die Menschenliebe und sie steigert dieselbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt er- lösend und befreiend, indem sie die Menschen reinigt und mit Gott ver- söhnt. Sie verkündet die Botschaft des Friedens. Es liegt nahe, diese Ideen und Gebote in die Rechtssprache zu übersetzen und zu Grundsätzen eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie Glieder der großen Menschenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden sorgt und sogar im Kriege für die Menschenrechte Achtung fordert. Im Mittel- alter war die römisch-katholische Kirche berufen, die christlichen Ideen zu vertreten, sie hatte die Erziehung der uncivilisirten Völker übernommen. Dennoch hat sie ein derartiges christliches Völkerrecht nicht hervorge- bracht. Vergeblich sieht man sich in dem kanonischen Gesetzbuch darnach um. Nur dem Kriegsrecht ist ein Abschnitt des alten Decretum Gratiani (II. 23) gewidmet.
Allerdings versuchten es die Päpste im Mittelalter, das Amt der obersten Schiedsrichter über die Fürsten und Völker der abendländischen Christenheit sich zuzueignen. Oefter saßen die Päpste zu Gericht über die Streitigkeiten der Fürsten unter sich oder mit den Ständen. Wenn sich nur irgendwie dem Streite eine religiöse Seite oder eine kirchliche Be- ziehung abgewinnen ließ -- und wo wäre das nicht möglich? -- so hielten sie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten sie sich dann, Vergleiche zu stiften, bald sprachen sie ihr Urtheil aus. Aber diese völker-
Einleitung.
waren. Ohne weſentliche Gleichberechtigung der verſchiedenen Völker iſt kein Völkerrecht möglich.
2. Im Mittelalter.
Chriſtenthum.
Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entſcheidend auf, die chriſtliche Kirche und die germaniſchen Fürſten und Völker. Haben etwa dieſe Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?
In der That leuchten manche chriſtliche Ideen der Bildung des Völkerrechts vor. Das Chriſtenthum ſieht in Gott den Vater der Menſchen, in den Menſchen die Kinder Gottes. Damit iſt die Einheit des Menſchen- geſchlechts und die Brüderſchaft aller Völker im Princip anerkannt. Die chriſtliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbſtgerechtigkeit und fordert Demuth, ſie greift die Selbſtſucht in ihrer Wurzel an und verlangt Entſagung, ſie ſchätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrſchaft über Andere. Sie entfernt alſo die Hinderniſſe, welche der Gründung eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchſtes Gebot iſt die Menſchenliebe und ſie ſteigert dieſelbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt er- löſend und befreiend, indem ſie die Menſchen reinigt und mit Gott ver- ſöhnt. Sie verkündet die Botſchaft des Friedens. Es liegt nahe, dieſe Ideen und Gebote in die Rechtsſprache zu überſetzen und zu Grundſätzen eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie Glieder der großen Menſchenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden ſorgt und ſogar im Kriege für die Menſchenrechte Achtung fordert. Im Mittel- alter war die römiſch-katholiſche Kirche berufen, die chriſtlichen Ideen zu vertreten, ſie hatte die Erziehung der unciviliſirten Völker übernommen. Dennoch hat ſie ein derartiges chriſtliches Völkerrecht nicht hervorge- bracht. Vergeblich ſieht man ſich in dem kanoniſchen Geſetzbuch darnach um. Nur dem Kriegsrecht iſt ein Abſchnitt des alten Decretum Gratiani (II. 23) gewidmet.
Allerdings verſuchten es die Päpſte im Mittelalter, das Amt der oberſten Schiedsrichter über die Fürſten und Völker der abendländiſchen Chriſtenheit ſich zuzueignen. Oefter ſaßen die Päpſte zu Gericht über die Streitigkeiten der Fürſten unter ſich oder mit den Ständen. Wenn ſich nur irgendwie dem Streite eine religiöſe Seite oder eine kirchliche Be- ziehung abgewinnen ließ — und wo wäre das nicht möglich? — ſo hielten ſie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten ſie ſich dann, Vergleiche zu ſtiften, bald ſprachen ſie ihr Urtheil aus. Aber dieſe völker-
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Einleitung.
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kein Völkerrecht möglich.
2. Im Mittelalter.
Chriſtenthum.
Im Mittelalter treten in Europa zwei neue Mächte entſcheidend
auf, die chriſtliche Kirche und die germaniſchen Fürſten und Völker.
Haben etwa dieſe Mächte das Völkerrecht zur Welt gebracht?
In der That leuchten manche chriſtliche Ideen der Bildung des
Völkerrechts vor. Das Chriſtenthum ſieht in Gott den Vater der Menſchen,
in den Menſchen die Kinder Gottes. Damit iſt die Einheit des Menſchen-
geſchlechts und die Brüderſchaft aller Völker im Princip anerkannt. Die
chriſtliche Religion beugt jenen Stolz der antiken Selbſtgerechtigkeit und
fordert Demuth, ſie greift die Selbſtſucht in ihrer Wurzel an und verlangt
Entſagung, ſie ſchätzt die Hingebung für Andere höher als die Herrſchaft
über Andere. Sie entfernt alſo die Hinderniſſe, welche der Gründung
eines antiken Völkerrechts im Wege waren. Ihr höchſtes Gebot iſt die
Menſchenliebe und ſie ſteigert dieſelbe bis zur Feindesliebe. Sie wirkt er-
löſend und befreiend, indem ſie die Menſchen reinigt und mit Gott ver-
ſöhnt. Sie verkündet die Botſchaft des Friedens. Es liegt nahe, dieſe
Ideen und Gebote in die Rechtsſprache zu überſetzen und zu Grundſätzen
eines humanen Völkerrechts umzubilden, welches alle Völker als freie
Glieder der großen Menſchenfamilie anerkennt, für den Weltfrieden ſorgt
und ſogar im Kriege für die Menſchenrechte Achtung fordert. Im Mittel-
alter war die römiſch-katholiſche Kirche berufen, die chriſtlichen Ideen zu
vertreten, ſie hatte die Erziehung der unciviliſirten Völker übernommen.
Dennoch hat ſie ein derartiges chriſtliches Völkerrecht nicht hervorge-
bracht. Vergeblich ſieht man ſich in dem kanoniſchen Geſetzbuch darnach
um. Nur dem Kriegsrecht iſt ein Abſchnitt des alten Decretum Gratiani
(II. 23) gewidmet.
Allerdings verſuchten es die Päpſte im Mittelalter, das Amt der
oberſten Schiedsrichter über die Fürſten und Völker der abendländiſchen
Chriſtenheit ſich zuzueignen. Oefter ſaßen die Päpſte zu Gericht über die
Streitigkeiten der Fürſten unter ſich oder mit den Ständen. Wenn ſich
nur irgendwie dem Streite eine religiöſe Seite oder eine kirchliche Be-
ziehung abgewinnen ließ — und wo wäre das nicht möglich? — ſo
hielten ſie ihre Gerichtsbarkeit für begründet. Bald bemühten ſie ſich dann,
Vergleiche zu ſtiften, bald ſprachen ſie ihr Urtheil aus. Aber dieſe völker-
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/34>, abgerufen am 23.11.2024.
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