den Gesetzen der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ehre und des civili- sirten Kriegsgebrauchs.
Militärische Tyrannei und Unterdrückung ist nicht Ausübung, sondern Miß- brauch des Kriegsrechts. Je größer die Ueberlegenheit der bewaffneten Macht ist über die unbewaffneten Bürger, desto nöthiger ist es, daß dieselbe durch jene menschlichen Tugenden und Vorzüge veredelt und ermäßigt werde. Es ist nicht ein Zeichen militärischer Tapferkeit oder Ehre, wenn der Soldat seine Gewalt zur Un- gebühr mißbraucht, sondern nur ein Zeichen von unwürdiger Roheit, und es ist der Stolz einer civilisirten Armee, Recht und gute Sitte zu achten. Eben dadurch un- terscheidet sie sich von barbarischen Kriegern. Amerik. Kriegsart. 4.
543.
Das Kriegsrecht ist weniger streng zu handhaben in Plätzen und Bezirken, deren Besitznahme gesichert erscheint und strenger da, wo die Gefahr des Kampfes um den Besitz fortdauert und nahe ist, am strengsten im Angesicht des wirklichen Kampfes selbst.
Am. Kr. 5. Diese Regel wirkt sowohl auf die Bestimmung kriegsrechtlicher Anordnungen, als auf die Anwendung und Auslegung des Kriegsrechts. Die Stei- gerung der Strenge ist wie das ganze Kriegsrecht durch die militärische Nothwen- digkeit und das Bedürfniß der Sicherheit bedingt. Wenn es sich z. B. rechtfertigt, im Angesicht des gegenwärtigen Kampfs Häuser von Privaten ganz in Besitz neh- men, mit Wegweisung der Bewohner und vielleicht dieselben niederzureißen, so würde eine solche Maßregel, wenn ein localer Kampf an der Stelle noch völlig ungewiß ist, als barbarisch erscheinen. Ebenso wird die Hemmung alles Verkehrs, unter Umständen durch militärische Vorsichtsmaßregeln geboten, ohne solches Bedürf- niß ungerechtfertigt sein.
544.
So weit die Besitznahme der feindlichen Kriegsmacht reicht und so lange sie dauert, erscheint die Regierungsgewalt des gegnerischen States verdrängt.
Inzwischen sind die Bewohner der besetzten Gebiete zu keinem Ge- horsam gegen die verdrängte Regierung verbunden, aber genöthigt, der thatsächlich herrschenden Kriegsgewalt statlichen Gehorsam zu leisten.
Vgl. oben zu § 539. Die Besitznahme eines Gebietstheils hört aber nicht schon dadurch auf, daß die besetzenden Truppen wegziehen. Wenn die Armee vor- wärts marschirt in Feindesland, so bleibt zunächst das hinter ihr liegende
Bluntschli, Das Völkerrecht. 20
Das Kriegsrecht.
den Geſetzen der Menſchlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ehre und des civili- ſirten Kriegsgebrauchs.
Militäriſche Tyrannei und Unterdrückung iſt nicht Ausübung, ſondern Miß- brauch des Kriegsrechts. Je größer die Ueberlegenheit der bewaffneten Macht iſt über die unbewaffneten Bürger, deſto nöthiger iſt es, daß dieſelbe durch jene menſchlichen Tugenden und Vorzüge veredelt und ermäßigt werde. Es iſt nicht ein Zeichen militäriſcher Tapferkeit oder Ehre, wenn der Soldat ſeine Gewalt zur Un- gebühr mißbraucht, ſondern nur ein Zeichen von unwürdiger Roheit, und es iſt der Stolz einer civiliſirten Armee, Recht und gute Sitte zu achten. Eben dadurch un- terſcheidet ſie ſich von barbariſchen Kriegern. Amerik. Kriegsart. 4.
543.
Das Kriegsrecht iſt weniger ſtreng zu handhaben in Plätzen und Bezirken, deren Beſitznahme geſichert erſcheint und ſtrenger da, wo die Gefahr des Kampfes um den Beſitz fortdauert und nahe iſt, am ſtrengſten im Angeſicht des wirklichen Kampfes ſelbſt.
Am. Kr. 5. Dieſe Regel wirkt ſowohl auf die Beſtimmung kriegsrechtlicher Anordnungen, als auf die Anwendung und Auslegung des Kriegsrechts. Die Stei- gerung der Strenge iſt wie das ganze Kriegsrecht durch die militäriſche Nothwen- digkeit und das Bedürfniß der Sicherheit bedingt. Wenn es ſich z. B. rechtfertigt, im Angeſicht des gegenwärtigen Kampfs Häuſer von Privaten ganz in Beſitz neh- men, mit Wegweiſung der Bewohner und vielleicht dieſelben niederzureißen, ſo würde eine ſolche Maßregel, wenn ein localer Kampf an der Stelle noch völlig ungewiß iſt, als barbariſch erſcheinen. Ebenſo wird die Hemmung alles Verkehrs, unter Umſtänden durch militäriſche Vorſichtsmaßregeln geboten, ohne ſolches Bedürf- niß ungerechtfertigt ſein.
544.
So weit die Beſitznahme der feindlichen Kriegsmacht reicht und ſo lange ſie dauert, erſcheint die Regierungsgewalt des gegneriſchen States verdrängt.
Inzwiſchen ſind die Bewohner der beſetzten Gebiete zu keinem Ge- horſam gegen die verdrängte Regierung verbunden, aber genöthigt, der thatſächlich herrſchenden Kriegsgewalt ſtatlichen Gehorſam zu leiſten.
Vgl. oben zu § 539. Die Beſitznahme eines Gebietstheils hört aber nicht ſchon dadurch auf, daß die beſetzenden Truppen wegziehen. Wenn die Armee vor- wärts marſchirt in Feindesland, ſo bleibt zunächſt das hinter ihr liegende
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 20
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Das Kriegsrecht.
den Geſetzen der Menſchlichkeit, der Gerechtigkeit, der Ehre und des civili-
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Militäriſche Tyrannei und Unterdrückung iſt nicht Ausübung, ſondern Miß-
brauch des Kriegsrechts. Je größer die Ueberlegenheit der bewaffneten Macht
iſt über die unbewaffneten Bürger, deſto nöthiger iſt es, daß dieſelbe durch jene
menſchlichen Tugenden und Vorzüge veredelt und ermäßigt werde. Es iſt nicht ein
Zeichen militäriſcher Tapferkeit oder Ehre, wenn der Soldat ſeine Gewalt zur Un-
gebühr mißbraucht, ſondern nur ein Zeichen von unwürdiger Roheit, und es iſt der
Stolz einer civiliſirten Armee, Recht und gute Sitte zu achten. Eben dadurch un-
terſcheidet ſie ſich von barbariſchen Kriegern. Amerik. Kriegsart. 4.
543.
Das Kriegsrecht iſt weniger ſtreng zu handhaben in Plätzen und
Bezirken, deren Beſitznahme geſichert erſcheint und ſtrenger da, wo die
Gefahr des Kampfes um den Beſitz fortdauert und nahe iſt, am ſtrengſten
im Angeſicht des wirklichen Kampfes ſelbſt.
Am. Kr. 5. Dieſe Regel wirkt ſowohl auf die Beſtimmung kriegsrechtlicher
Anordnungen, als auf die Anwendung und Auslegung des Kriegsrechts. Die Stei-
gerung der Strenge iſt wie das ganze Kriegsrecht durch die militäriſche Nothwen-
digkeit und das Bedürfniß der Sicherheit bedingt. Wenn es ſich z. B. rechtfertigt,
im Angeſicht des gegenwärtigen Kampfs Häuſer von Privaten ganz in Beſitz neh-
men, mit Wegweiſung der Bewohner und vielleicht dieſelben niederzureißen, ſo
würde eine ſolche Maßregel, wenn ein localer Kampf an der Stelle noch völlig
ungewiß iſt, als barbariſch erſcheinen. Ebenſo wird die Hemmung alles Verkehrs,
unter Umſtänden durch militäriſche Vorſichtsmaßregeln geboten, ohne ſolches Bedürf-
niß ungerechtfertigt ſein.
544.
So weit die Beſitznahme der feindlichen Kriegsmacht reicht und ſo
lange ſie dauert, erſcheint die Regierungsgewalt des gegneriſchen States
verdrängt.
Inzwiſchen ſind die Bewohner der beſetzten Gebiete zu keinem Ge-
horſam gegen die verdrängte Regierung verbunden, aber genöthigt, der
thatſächlich herrſchenden Kriegsgewalt ſtatlichen Gehorſam zu leiſten.
Vgl. oben zu § 539. Die Beſitznahme eines Gebietstheils hört aber nicht
ſchon dadurch auf, daß die beſetzenden Truppen wegziehen. Wenn die Armee vor-
wärts marſchirt in Feindesland, ſo bleibt zunächſt das hinter ihr liegende
Bluntſchli, Das Völkerrecht. 20
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/327>, abgerufen am 24.11.2024.
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