Als rechtmäßige Ursache zum Krieg ist aber nicht bloß die Verletzung geschichtlich anerkannter und erworbener Rechte, sondern ebenso die unge- rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der fortschreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.
Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugestaltung des Stats muß ebenso aner- kannt und durchgeführt werden, wie der Bestand des geschichtlich gewordenen Rechts, so lange es lebensfähig und zeitgemäß ist, geschützt werden soll. Wer die Verfechtung des werdenden Rechts bestreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten muß, wenn das Recht seine Bestimmung erfüllen soll. Es ist eine eher kindische als juristische Ansicht, daß ein Volk berechtigt sei, für das dynastische Erbrecht eines Fürsten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt sei, für seine nationale Einigung zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geschichte bisher verhindert und gehemmt worden ist. Dennoch hat diese wunderliche Meinung im Jahr 1866 in Deutschland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens ist das Recht eines Volkes, sich die statliche Gestalt zu geben, deren es bedarf, um seine natürliche Anlage zu entwickeln, seine Bestimmung zu erfüllen, für seine Sicherheit zu sorgen und seine Ehre zu wahren, und daher sein Recht, dafür nöthigenfalls zu den Waffen zu greifen, ein sehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht als irgend ein urkundliches Dynastenrecht.
518.
Das bloße Statsinteresse für sich allein rechtfertigt den Krieg nicht.
Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, sind nur Rechts- gründe, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denselben zu rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß politischen Motiven unternommen worden sind, um das Ansehen einer Macht zu vergrößern, eine politische Richtung zu hindern oder zu unterstützen, günstige Ver- bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik ist der Krieg durchaus verwerflich.
Völlig verschieden von dieser Frage ist die andere, ob der Krieg, wenn er als Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politisches Mittel benützt werden dürfe. Das ist meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be- nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da ist, auch nützliche Zwecke zu erreichen, schafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker vorwärts.
19*
Das Kriegsrecht.
517.
Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die unge- rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der fortſchreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.
Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo aner- kannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſo lange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunderliche Meinung im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, dafür nöthigenfalls zu den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht.
518.
Das bloße Statsintereſſe für ſich allein rechtfertigt den Krieg nicht.
Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechts- gründe, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß politiſchen Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Ver- bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg durchaus verwerflich.
Völlig verſchieden von dieſer Frage iſt die andere, ob der Krieg, wenn er als Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politiſches Mittel benützt werden dürfe. Das iſt meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be- nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da iſt, auch nützliche Zwecke zu erreichen, ſchafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker vorwärts.
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Das Kriegsrecht.
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Als rechtmäßige Urſache zum Krieg iſt aber nicht bloß die Verletzung
geſchichtlich anerkannter und erworbener Rechte, ſondern ebenſo die unge-
rechtfertigte Behinderung der nothwendigen neuen Rechtsbildung und der
fortſchreitenden Rechtsentwicklung zu betrachten.
Die Nothwendigkeit der zeitgemäßen Neugeſtaltung des Stats muß ebenſo aner-
kannt und durchgeführt werden, wie der Beſtand des geſchichtlich gewordenen Rechts, ſo
lange es lebensfähig und zeitgemäß iſt, geſchützt werden ſoll. Wer die Verfechtung
des werdenden Rechts beſtreitet, der verkennt die lebendige Natur des Rechts und
hindert deren Fortbildung, welche mit der Entwicklung der Völker Schritt halten
muß, wenn das Recht ſeine Beſtimmung erfüllen ſoll. Es iſt eine eher kindiſche
als juriſtiſche Anſicht, daß ein Volk berechtigt ſei, für das dynaſtiſche Erbrecht eines
Fürſten Krieg zu führen, aber nicht berechtigt ſei, für ſeine nationale Einigung
zu den Waffen zu greifen, weil jenes Erbrecht in einer mittelalterlichen Urkunde
vorbehalten worden, die nationale Einigung dagegen durch eine traurige Geſchichte
bisher verhindert und gehemmt worden iſt. Dennoch hat dieſe wunderliche Meinung
im Jahr 1866 in Deutſchland manche Vertreter gefunden. Meines Erachtens iſt das
Recht eines Volkes, ſich die ſtatliche Geſtalt zu geben, deren es bedarf, um ſeine
natürliche Anlage zu entwickeln, ſeine Beſtimmung zu erfüllen, für ſeine Sicherheit
zu ſorgen und ſeine Ehre zu wahren, und daher ſein Recht, dafür nöthigenfalls zu
den Waffen zu greifen, ein ſehr viel heiligeres, natürlicheres und wichtigeres Recht
als irgend ein urkundliches Dynaſtenrecht.
518.
Das bloße Statsintereſſe für ſich allein rechtfertigt den Krieg nicht.
Eben weil in dem Krieg die Gewalt zwingend auftritt, ſind nur Rechts-
gründe, nicht aber bloße Zweckmäßigkeitsgründe geeignet, denſelben zu
rechtfertigen. Es gibt freilich viele Kriege, welche ohne Rechtsnothwendigkeit, aus bloß
politiſchen Motiven unternommen worden ſind, um das Anſehen einer Macht zu
vergrößern, eine politiſche Richtung zu hindern oder zu unterſtützen, günſtige Ver-
bindungen zu erreichen u. dgl. Aber als bloßes Mittel der Politik iſt der Krieg
durchaus verwerflich.
Völlig verſchieden von dieſer Frage iſt die andere, ob der Krieg, wenn er als
Rechtshülfe unternommen worden, nicht auch als politiſches Mittel benützt
werden dürfe. Das iſt meines Erachtens nicht zu tadeln. Im Gegentheil, die Be-
nutzung des Kriegs, um wenn er einmal da iſt, auch nützliche Zwecke zu erreichen,
ſchafft ein Aequivalent für die unvermeidlichen Kriegsübel und bringt die Völker
vorwärts.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/313>, abgerufen am 24.11.2024.
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