1. Beispiele aus neuerer Zeit sind der Schweizer Sonderbundskrieg vom Jahr 1847 und der nordamerikanische Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Die Bundesgewalt bezeichnete zwar in beiden Kriegen die widerstreitenden Sonderbünde als strafbare Rebellen, und verzichtete auch nicht völlig auf die Bestra- fung der Anstifter und Führer der Rebellion. Aber trotzdem wurden die Truppen der Einzelstaten doch, und mit Recht, als wirkliche Kriegspartei behandelt und da- durch der Schutz des civilisirten Kriegsrechts über das ganze Kriegsfeld ausgedehnt. Noch entschiedener sahen die auswärtigen Staten in beiden Mächten, die sich bekrieg- ten, wahre völkerrechtliche Kriegsparteien.
2. Auch in dem deutschen Krieg von 1866 versuchte es die Mehrheit des Bundestags dem Krieg den Charakter eines Executionskriegs gegen Preußen beizu- legen, aber ohne Glück. Preußen und Oesterreich, die sich um die Führung der deutschen Nation stritten, waren beide keine bloße Bundesstaten, sondern europäische Mächte und ihr Krieg daher ein völkerrechtlicher Krieg im vollen Sinn des Worts. Von einer Anwendung einer bundesmäßigen Strafgerichtsbarkeit konnte daher keine Rede sein.
515.
Der Krieg ist gerecht, wenn und soweit die bewaffnete Rechtshülfe durch das Völkerrecht begründet ist, ungerecht, wenn dieselbe im Widerspruch mit den Vorschriften des Völkerrechts ist.
Es ist das nicht bloß ein moralischer, sondern ein wirklicher Rechtssatz, freilich vorerst noch von geringer practischer Bedeutung, weil jede Kriegspartei die Gerechtigkeit ihrer Sache behauptet und es an einem unparteiischen Richter fehlt, welcher über die Wahrheit dieser Behauptung entscheidet. Indessen einige Wirkungen hat diese Unterscheidung doch, insbesondere bezüglich der Allianzpflicht und unter Umständen auch der Intervention bisher unbetheiligter Mächte. Jene ist nur für den gerechten Krieg zu fordern, diese gegen den ungerechten Krieg erlaubt.
516.
Als rechtmäßige Ursache zum Krieg gilt eine ernste Rechtsverletzung oder eine gewaltsame Besitzstörung, welche dem zum Krieg greifenden State widerfahren ist oder womit er in gefährlicher Weise bedroht ist, oder eine schwere Verletzung der allgemeinen Weltordnung.
Die Gewalt von Mensch gegen Mensch geübt, ist nur durch die Nothwen- digkeit zu rechtfertigen, die wir ihres sittlichen Charakters wegen Recht nennen. Der Krieg als Rechtshülfe setzt daher die Verletzung eines Rechts voraus, das nur mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen ist, ganz ebenso wie der gerichtliche Proceß eine Rechtsverletzung voraussetzt, welche die Klage begründet.
Achtes Buch.
1. Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind der Schweizer Sonderbundskrieg vom Jahr 1847 und der nordamerikaniſche Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Die Bundesgewalt bezeichnete zwar in beiden Kriegen die widerſtreitenden Sonderbünde als ſtrafbare Rebellen, und verzichtete auch nicht völlig auf die Beſtra- fung der Anſtifter und Führer der Rebellion. Aber trotzdem wurden die Truppen der Einzelſtaten doch, und mit Recht, als wirkliche Kriegspartei behandelt und da- durch der Schutz des civiliſirten Kriegsrechts über das ganze Kriegsfeld ausgedehnt. Noch entſchiedener ſahen die auswärtigen Staten in beiden Mächten, die ſich bekrieg- ten, wahre völkerrechtliche Kriegsparteien.
2. Auch in dem deutſchen Krieg von 1866 verſuchte es die Mehrheit des Bundestags dem Krieg den Charakter eines Executionskriegs gegen Preußen beizu- legen, aber ohne Glück. Preußen und Oeſterreich, die ſich um die Führung der deutſchen Nation ſtritten, waren beide keine bloße Bundesſtaten, ſondern europäiſche Mächte und ihr Krieg daher ein völkerrechtlicher Krieg im vollen Sinn des Worts. Von einer Anwendung einer bundesmäßigen Strafgerichtsbarkeit konnte daher keine Rede ſein.
515.
Der Krieg iſt gerecht, wenn und ſoweit die bewaffnete Rechtshülfe durch das Völkerrecht begründet iſt, ungerecht, wenn dieſelbe im Widerſpruch mit den Vorſchriften des Völkerrechts iſt.
Es iſt das nicht bloß ein moraliſcher, ſondern ein wirklicher Rechtsſatz, freilich vorerſt noch von geringer practiſcher Bedeutung, weil jede Kriegspartei die Gerechtigkeit ihrer Sache behauptet und es an einem unparteiiſchen Richter fehlt, welcher über die Wahrheit dieſer Behauptung entſcheidet. Indeſſen einige Wirkungen hat dieſe Unterſcheidung doch, insbeſondere bezüglich der Allianzpflicht und unter Umſtänden auch der Intervention bisher unbetheiligter Mächte. Jene iſt nur für den gerechten Krieg zu fordern, dieſe gegen den ungerechten Krieg erlaubt.
516.
Als rechtmäßige Urſache zum Krieg gilt eine ernſte Rechtsverletzung oder eine gewaltſame Beſitzſtörung, welche dem zum Krieg greifenden State widerfahren iſt oder womit er in gefährlicher Weiſe bedroht iſt, oder eine ſchwere Verletzung der allgemeinen Weltordnung.
Die Gewalt von Menſch gegen Menſch geübt, iſt nur durch die Nothwen- digkeit zu rechtfertigen, die wir ihres ſittlichen Charakters wegen Recht nennen. Der Krieg als Rechtshülfe ſetzt daher die Verletzung eines Rechts voraus, das nur mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen iſt, ganz ebenſo wie der gerichtliche Proceß eine Rechtsverletzung vorausſetzt, welche die Klage begründet.
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Achtes Buch.
1. Beiſpiele aus neuerer Zeit ſind der Schweizer Sonderbundskrieg
vom Jahr 1847 und der nordamerikaniſche Bürgerkrieg von 1861 bis
1865. Die Bundesgewalt bezeichnete zwar in beiden Kriegen die widerſtreitenden
Sonderbünde als ſtrafbare Rebellen, und verzichtete auch nicht völlig auf die Beſtra-
fung der Anſtifter und Führer der Rebellion. Aber trotzdem wurden die Truppen
der Einzelſtaten doch, und mit Recht, als wirkliche Kriegspartei behandelt und da-
durch der Schutz des civiliſirten Kriegsrechts über das ganze Kriegsfeld ausgedehnt.
Noch entſchiedener ſahen die auswärtigen Staten in beiden Mächten, die ſich bekrieg-
ten, wahre völkerrechtliche Kriegsparteien.
2. Auch in dem deutſchen Krieg von 1866 verſuchte es die Mehrheit des
Bundestags dem Krieg den Charakter eines Executionskriegs gegen Preußen beizu-
legen, aber ohne Glück. Preußen und Oeſterreich, die ſich um die Führung der
deutſchen Nation ſtritten, waren beide keine bloße Bundesſtaten, ſondern europäiſche
Mächte und ihr Krieg daher ein völkerrechtlicher Krieg im vollen Sinn des
Worts. Von einer Anwendung einer bundesmäßigen Strafgerichtsbarkeit konnte
daher keine Rede ſein.
515.
Der Krieg iſt gerecht, wenn und ſoweit die bewaffnete Rechtshülfe
durch das Völkerrecht begründet iſt, ungerecht, wenn dieſelbe im Widerſpruch
mit den Vorſchriften des Völkerrechts iſt.
Es iſt das nicht bloß ein moraliſcher, ſondern ein wirklicher Rechtsſatz,
freilich vorerſt noch von geringer practiſcher Bedeutung, weil jede Kriegspartei die
Gerechtigkeit ihrer Sache behauptet und es an einem unparteiiſchen Richter fehlt,
welcher über die Wahrheit dieſer Behauptung entſcheidet. Indeſſen einige Wirkungen
hat dieſe Unterſcheidung doch, insbeſondere bezüglich der Allianzpflicht und
unter Umſtänden auch der Intervention bisher unbetheiligter Mächte.
Jene iſt nur für den gerechten Krieg zu fordern, dieſe gegen den ungerechten Krieg
erlaubt.
516.
Als rechtmäßige Urſache zum Krieg gilt eine ernſte Rechtsverletzung
oder eine gewaltſame Beſitzſtörung, welche dem zum Krieg greifenden
State widerfahren iſt oder womit er in gefährlicher Weiſe bedroht iſt,
oder eine ſchwere Verletzung der allgemeinen Weltordnung.
Die Gewalt von Menſch gegen Menſch geübt, iſt nur durch die Nothwen-
digkeit zu rechtfertigen, die wir ihres ſittlichen Charakters wegen Recht nennen.
Der Krieg als Rechtshülfe ſetzt daher die Verletzung eines Rechts voraus, das
nur mit Gewalt zur Anerkennung zu bringen iſt, ganz ebenſo wie der gerichtliche
Proceß eine Rechtsverletzung vorausſetzt, welche die Klage begründet.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/312>, abgerufen am 24.11.2024.
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