Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben.
bewegen. Der Stat A kann sich nicht beklagen, wenn gegen ihn dasselbe Princip angewendet wird, nach welchem er den Stat B behandelt.
2. Eine bloße Rechtsverschiedenheit, auch wenn sie in einzelnen Fällen dem einen oder andern Stat oder dessen Bewohnern nützt oder schadet, be- gründet keine Retorsion. Z. B. Im State A besteht als Güterrecht der Ehegatten die Fahrhabegemeinschaft, und im State B das System der gesonderten Güter. Oder im State A haben die Söhne ein besseres Erbrecht als die Töchter in der Erbschaft des Vaters, im State B stehen sich die Kinder gleich u. dgl. Diese Ver- schiedenheit hat nicht den Charakter der Unbill eines States gegen den andern Stat, sondern erklärt sich aus verschiedenen Rechtsansichten und Rechtsübungen und wirkt nur zufällig, nicht principiell, nur wechselnd, nicht dauernd für den Nachbarstat bald ungünstig, bald günstig.
3. Die moderne Rechtsbildung liebt übrigens die Retorsion nicht. Als diplo- matisches Mittel der Verhandlung und Drohung läßt sie sich wohl gebrauchen, aber ihre Ausführung gereicht oft dem Retorsion übenden State ebenso zum Schaden wie dem Retorsion leidenden. Ueberdem entstellt der erstere Stat seine Gesetzgebung durch Retorsionsbestimmungen, deren Unbilligkeit und Unzweckmäßigkeit an sich er vollständig einsieht und die er meist in der sehr unsichern Hoffnung einführt, den Nachbarstat dadurch zu bessern.
506.
In Folge schwerer Rechtsverletzungen kann auch ohne Krieg eine Verkehrssperre (blocus) von der Statsgewalt gegen den verletzenden Stat verhängt werden.
1. Die Verkehrssperre untersagt den Angehörigen des betroffenen Stats den Eintritt in das Gebiet des sperrenden Stats oder verhindert den Uebergang aus diesem Gebiet in jenes, oder sie hemmt den Waarenverkehr von einem Gebiet zum andern, oder die Ein- und Ausfahrt der Schiffe. Das Uebel ist insofern geringer als das des Kriegs, als kein Blut vergossen wird; aber es unterbindet den freien Umlauf der wirthschaftlichen Güter und hemmt die Berührung der Menschen. Es wirkt in der Regel ebenso schädlich für den sperrenden Stat wie für das gesperrte Land, denn aller Verkehr ist zweiseitig und wechselnd.
2. Die Sperre kann zu Land und zur See angeordnet werden, Landsperre und Seeblocade. Gewöhnlich werden beide nur im Kriegszustande geübt. Von der Kriegsblocade wird weiter unten die Rede sein IX. Cap. 5. Beispiele von friedlichen Blocaden sind die Blocade von England, Frankreich und Rußland gegen die Türkisch-Griechische Küste 1827, die Blocade von Frankreich gegen Portugal 1831, die von dem Ministerium Thiers gegen die Schweiz angedrohte Landblocade (blocus hermetique) 1836, die französische Blocade in Mexiko 1838.
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
bewegen. Der Stat A kann ſich nicht beklagen, wenn gegen ihn dasſelbe Princip angewendet wird, nach welchem er den Stat B behandelt.
2. Eine bloße Rechtsverſchiedenheit, auch wenn ſie in einzelnen Fällen dem einen oder andern Stat oder deſſen Bewohnern nützt oder ſchadet, be- gründet keine Retorſion. Z. B. Im State A beſteht als Güterrecht der Ehegatten die Fahrhabegemeinſchaft, und im State B das Syſtem der geſonderten Güter. Oder im State A haben die Söhne ein beſſeres Erbrecht als die Töchter in der Erbſchaft des Vaters, im State B ſtehen ſich die Kinder gleich u. dgl. Dieſe Ver- ſchiedenheit hat nicht den Charakter der Unbill eines States gegen den andern Stat, ſondern erklärt ſich aus verſchiedenen Rechtsanſichten und Rechtsübungen und wirkt nur zufällig, nicht principiell, nur wechſelnd, nicht dauernd für den Nachbarſtat bald ungünſtig, bald günſtig.
3. Die moderne Rechtsbildung liebt übrigens die Retorſion nicht. Als diplo- matiſches Mittel der Verhandlung und Drohung läßt ſie ſich wohl gebrauchen, aber ihre Ausführung gereicht oft dem Retorſion übenden State ebenſo zum Schaden wie dem Retorſion leidenden. Ueberdem entſtellt der erſtere Stat ſeine Geſetzgebung durch Retorſionsbeſtimmungen, deren Unbilligkeit und Unzweckmäßigkeit an ſich er vollſtändig einſieht und die er meiſt in der ſehr unſichern Hoffnung einführt, den Nachbarſtat dadurch zu beſſern.
506.
In Folge ſchwerer Rechtsverletzungen kann auch ohne Krieg eine Verkehrsſperre (blocus) von der Statsgewalt gegen den verletzenden Stat verhängt werden.
1. Die Verkehrsſperre unterſagt den Angehörigen des betroffenen Stats den Eintritt in das Gebiet des ſperrenden Stats oder verhindert den Uebergang aus dieſem Gebiet in jenes, oder ſie hemmt den Waarenverkehr von einem Gebiet zum andern, oder die Ein- und Ausfahrt der Schiffe. Das Uebel iſt inſofern geringer als das des Kriegs, als kein Blut vergoſſen wird; aber es unterbindet den freien Umlauf der wirthſchaftlichen Güter und hemmt die Berührung der Menſchen. Es wirkt in der Regel ebenſo ſchädlich für den ſperrenden Stat wie für das geſperrte Land, denn aller Verkehr iſt zweiſeitig und wechſelnd.
2. Die Sperre kann zu Land und zur See angeordnet werden, Landſperre und Seeblocade. Gewöhnlich werden beide nur im Kriegszuſtande geübt. Von der Kriegsblocade wird weiter unten die Rede ſein IX. Cap. 5. Beiſpiele von friedlichen Blocaden ſind die Blocade von England, Frankreich und Rußland gegen die Türkiſch-Griechiſche Küſte 1827, die Blocade von Frankreich gegen Portugal 1831, die von dem Miniſterium Thiers gegen die Schweiz angedrohte Landblocade (blocus hermétique) 1836, die franzöſiſche Blocade in Mexiko 1838.
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[283/0305]
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bewegen. Der Stat A kann ſich nicht beklagen, wenn gegen ihn dasſelbe Princip
angewendet wird, nach welchem er den Stat B behandelt.
2. Eine bloße Rechtsverſchiedenheit, auch wenn ſie in einzelnen
Fällen dem einen oder andern Stat oder deſſen Bewohnern nützt oder ſchadet, be-
gründet keine Retorſion. Z. B. Im State A beſteht als Güterrecht der Ehegatten
die Fahrhabegemeinſchaft, und im State B das Syſtem der geſonderten Güter.
Oder im State A haben die Söhne ein beſſeres Erbrecht als die Töchter in der
Erbſchaft des Vaters, im State B ſtehen ſich die Kinder gleich u. dgl. Dieſe Ver-
ſchiedenheit hat nicht den Charakter der Unbill eines States gegen den andern Stat,
ſondern erklärt ſich aus verſchiedenen Rechtsanſichten und Rechtsübungen und wirkt
nur zufällig, nicht principiell, nur wechſelnd, nicht dauernd für den Nachbarſtat bald
ungünſtig, bald günſtig.
3. Die moderne Rechtsbildung liebt übrigens die Retorſion nicht. Als diplo-
matiſches Mittel der Verhandlung und Drohung läßt ſie ſich wohl gebrauchen, aber
ihre Ausführung gereicht oft dem Retorſion übenden State ebenſo zum Schaden wie
dem Retorſion leidenden. Ueberdem entſtellt der erſtere Stat ſeine Geſetzgebung
durch Retorſionsbeſtimmungen, deren Unbilligkeit und Unzweckmäßigkeit an ſich er
vollſtändig einſieht und die er meiſt in der ſehr unſichern Hoffnung einführt, den
Nachbarſtat dadurch zu beſſern.
506.
In Folge ſchwerer Rechtsverletzungen kann auch ohne Krieg eine
Verkehrsſperre (blocus) von der Statsgewalt gegen den verletzenden Stat
verhängt werden.
1. Die Verkehrsſperre unterſagt den Angehörigen des betroffenen Stats den
Eintritt in das Gebiet des ſperrenden Stats oder verhindert den Uebergang aus
dieſem Gebiet in jenes, oder ſie hemmt den Waarenverkehr von einem Gebiet zum
andern, oder die Ein- und Ausfahrt der Schiffe. Das Uebel iſt inſofern geringer
als das des Kriegs, als kein Blut vergoſſen wird; aber es unterbindet den freien
Umlauf der wirthſchaftlichen Güter und hemmt die Berührung der Menſchen. Es
wirkt in der Regel ebenſo ſchädlich für den ſperrenden Stat wie für das geſperrte
Land, denn aller Verkehr iſt zweiſeitig und wechſelnd.
2. Die Sperre kann zu Land und zur See angeordnet werden, Landſperre
und Seeblocade. Gewöhnlich werden beide nur im Kriegszuſtande geübt. Von
der Kriegsblocade wird weiter unten die Rede ſein IX. Cap. 5. Beiſpiele von
friedlichen Blocaden ſind die Blocade von England, Frankreich und Rußland gegen
die Türkiſch-Griechiſche Küſte 1827, die Blocade von Frankreich gegen Portugal 1831,
die von dem Miniſterium Thiers gegen die Schweiz angedrohte Landblocade (blocus
hermétique) 1836, die franzöſiſche Blocade in Mexiko 1838.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/305>, abgerufen am 24.11.2024.
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