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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben.
d) die Zurückweisung oder Ausweisung der Angehörigen des ver-
letzenden Stats aus dem Gebiete des verletzten Stats;
e) die Zurückhaltung von Personen, welche den gegnerischen Stat
repräsentiren oder doch demselben angehören, als Geiseln;
f) die Gefangennahme von Personen, welche im Dienste des Unrecht
übenden Stats sind oder selbst von Privatpersonen, welche dem-
selben angehören, wenn die eigenen Angehörigen zuvor von dem
beleidigenden State widerrechtlich gefangen gehalten worden sind;
g) die Weigerung, vertragsmäßige Leistungen ferner zu erfüllen und
die Lossagung von bestehenden Verträgen;
h) der Entzug der Privilegien oder selbst des privatrechtlichen Rechts-
schutzes gegenüber den Angehörigen des gegnerischen Stats.

1. Die Mittel der Selbsthülfe werden Repressalien (von reprehendere,
nicht von reprimere abgeleitet) genannt, wenn dieselben bezwecken, dem Recht ver-
letzenden Stat das Bewußtsein seines Unrechts dadurch klar zu machen, daß auch
ihm ein Uebel zugefügt wird, das er ebenfalls als Unrecht empfindet, und denselben
durch dieses Mittel zur Herstellung des Rechts und zur Genugthuung zu bewegen.
Naturgemäß haben daher die Repressalien den Charakter der Wiedervergeltung
zum Zweck der Rechtshülfe und Rechtsnöthigung. Die Mittel im Einzelnen sind
höchst mannigfaltig und nicht vollständig zum voraus aufzuzählen. Sie ändern ihre
Gestalt mit dem Wechsel des Lebens und der mannigfaltigen Erscheinung des voraus-
gehenden Unrechts.

2. Zu a. Die Beschlagnahme von gegnerischem Statsvermögen ist
eher anwendbar und zu rechtfertigen, als die von gegnerischem Privatgut, weil nur
die Staten, nicht die Privaten mit einander streiten, daher zunächst die Selbsthülfe
nur gegen den Stat und nicht gegen die Privaten sich zu wenden hat. Das ältere
Privatrecht der germanischen Völker gestattete in ähnlicher Weise, zur Zeit einer noch
wenig ausgebildeten Gerichtshülfe, dem Privatgläubiger für eine geständige (gichtige)
oder erwiesene Schuld die Pfändung als Selbsthülfe gegen den Schuldner anzuwen-
den. Das heutige Völkerrecht ist bezüglich der Gerichtshülfe noch ebenso wenig ge-
sichert, als das halbbarbarische Privatrecht im Mittelalter; daher ist diese Art der
Selbsthülfe, die in dem modernen Privatrechte in der Regel untersagt ist, im Völker-
recht noch nicht zu entbehren.

3. Zu b. Die Beschlagnahme von Privatgut in der Absicht dadurch
den Stat zu nöthigen, daß er von seinem Unrecht ablasse, ist unter allen Umständen
ein höchst bedenkliches Mittel der Selbsthülfe, denn es trifft weder die schuldigen
noch die verantwortlichen Personen, und übt auf den nicht betroffenen Stat, den man
nöthigen will, eine höchst zweifelhafte, nur sehr mittelbare Einwirkung aus. Gerecht-
fertigt wird sie daher höchstens als Gegenrecht, wenn zuvor der gegnerische Stat
ähnliches Unrecht gegen Private verübt hat, welche auf den Schutz des eigenen

Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
d) die Zurückweiſung oder Ausweiſung der Angehörigen des ver-
letzenden Stats aus dem Gebiete des verletzten Stats;
e) die Zurückhaltung von Perſonen, welche den gegneriſchen Stat
repräſentiren oder doch demſelben angehören, als Geiſeln;
f) die Gefangennahme von Perſonen, welche im Dienſte des Unrecht
übenden Stats ſind oder ſelbſt von Privatperſonen, welche dem-
ſelben angehören, wenn die eigenen Angehörigen zuvor von dem
beleidigenden State widerrechtlich gefangen gehalten worden ſind;
g) die Weigerung, vertragsmäßige Leiſtungen ferner zu erfüllen und
die Losſagung von beſtehenden Verträgen;
h) der Entzug der Privilegien oder ſelbſt des privatrechtlichen Rechts-
ſchutzes gegenüber den Angehörigen des gegneriſchen Stats.

1. Die Mittel der Selbſthülfe werden Repreſſalien (von reprehendere,
nicht von reprimere abgeleitet) genannt, wenn dieſelben bezwecken, dem Recht ver-
letzenden Stat das Bewußtſein ſeines Unrechts dadurch klar zu machen, daß auch
ihm ein Uebel zugefügt wird, das er ebenfalls als Unrecht empfindet, und denſelben
durch dieſes Mittel zur Herſtellung des Rechts und zur Genugthuung zu bewegen.
Naturgemäß haben daher die Repreſſalien den Charakter der Wiedervergeltung
zum Zweck der Rechtshülfe und Rechtsnöthigung. Die Mittel im Einzelnen ſind
höchſt mannigfaltig und nicht vollſtändig zum voraus aufzuzählen. Sie ändern ihre
Geſtalt mit dem Wechſel des Lebens und der mannigfaltigen Erſcheinung des voraus-
gehenden Unrechts.

2. Zu a. Die Beſchlagnahme von gegneriſchem Statsvermögen iſt
eher anwendbar und zu rechtfertigen, als die von gegneriſchem Privatgut, weil nur
die Staten, nicht die Privaten mit einander ſtreiten, daher zunächſt die Selbſthülfe
nur gegen den Stat und nicht gegen die Privaten ſich zu wenden hat. Das ältere
Privatrecht der germaniſchen Völker geſtattete in ähnlicher Weiſe, zur Zeit einer noch
wenig ausgebildeten Gerichtshülfe, dem Privatgläubiger für eine geſtändige (gichtige)
oder erwieſene Schuld die Pfändung als Selbſthülfe gegen den Schuldner anzuwen-
den. Das heutige Völkerrecht iſt bezüglich der Gerichtshülfe noch ebenſo wenig ge-
ſichert, als das halbbarbariſche Privatrecht im Mittelalter; daher iſt dieſe Art der
Selbſthülfe, die in dem modernen Privatrechte in der Regel unterſagt iſt, im Völker-
recht noch nicht zu entbehren.

3. Zu b. Die Beſchlagnahme von Privatgut in der Abſicht dadurch
den Stat zu nöthigen, daß er von ſeinem Unrecht ablaſſe, iſt unter allen Umſtänden
ein höchſt bedenkliches Mittel der Selbſthülfe, denn es trifft weder die ſchuldigen
noch die verantwortlichen Perſonen, und übt auf den nicht betroffenen Stat, den man
nöthigen will, eine höchſt zweifelhafte, nur ſehr mittelbare Einwirkung aus. Gerecht-
fertigt wird ſie daher höchſtens als Gegenrecht, wenn zuvor der gegneriſche Stat
ähnliches Unrecht gegen Private verübt hat, welche auf den Schutz des eigenen

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[279/0301] Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben. d) die Zurückweiſung oder Ausweiſung der Angehörigen des ver- letzenden Stats aus dem Gebiete des verletzten Stats; e) die Zurückhaltung von Perſonen, welche den gegneriſchen Stat repräſentiren oder doch demſelben angehören, als Geiſeln; f) die Gefangennahme von Perſonen, welche im Dienſte des Unrecht übenden Stats ſind oder ſelbſt von Privatperſonen, welche dem- ſelben angehören, wenn die eigenen Angehörigen zuvor von dem beleidigenden State widerrechtlich gefangen gehalten worden ſind; g) die Weigerung, vertragsmäßige Leiſtungen ferner zu erfüllen und die Losſagung von beſtehenden Verträgen; h) der Entzug der Privilegien oder ſelbſt des privatrechtlichen Rechts- ſchutzes gegenüber den Angehörigen des gegneriſchen Stats. 1. Die Mittel der Selbſthülfe werden Repreſſalien (von reprehendere, nicht von reprimere abgeleitet) genannt, wenn dieſelben bezwecken, dem Recht ver- letzenden Stat das Bewußtſein ſeines Unrechts dadurch klar zu machen, daß auch ihm ein Uebel zugefügt wird, das er ebenfalls als Unrecht empfindet, und denſelben durch dieſes Mittel zur Herſtellung des Rechts und zur Genugthuung zu bewegen. Naturgemäß haben daher die Repreſſalien den Charakter der Wiedervergeltung zum Zweck der Rechtshülfe und Rechtsnöthigung. Die Mittel im Einzelnen ſind höchſt mannigfaltig und nicht vollſtändig zum voraus aufzuzählen. Sie ändern ihre Geſtalt mit dem Wechſel des Lebens und der mannigfaltigen Erſcheinung des voraus- gehenden Unrechts. 2. Zu a. Die Beſchlagnahme von gegneriſchem Statsvermögen iſt eher anwendbar und zu rechtfertigen, als die von gegneriſchem Privatgut, weil nur die Staten, nicht die Privaten mit einander ſtreiten, daher zunächſt die Selbſthülfe nur gegen den Stat und nicht gegen die Privaten ſich zu wenden hat. Das ältere Privatrecht der germaniſchen Völker geſtattete in ähnlicher Weiſe, zur Zeit einer noch wenig ausgebildeten Gerichtshülfe, dem Privatgläubiger für eine geſtändige (gichtige) oder erwieſene Schuld die Pfändung als Selbſthülfe gegen den Schuldner anzuwen- den. Das heutige Völkerrecht iſt bezüglich der Gerichtshülfe noch ebenſo wenig ge- ſichert, als das halbbarbariſche Privatrecht im Mittelalter; daher iſt dieſe Art der Selbſthülfe, die in dem modernen Privatrechte in der Regel unterſagt iſt, im Völker- recht noch nicht zu entbehren. 3. Zu b. Die Beſchlagnahme von Privatgut in der Abſicht dadurch den Stat zu nöthigen, daß er von ſeinem Unrecht ablaſſe, iſt unter allen Umſtänden ein höchſt bedenkliches Mittel der Selbſthülfe, denn es trifft weder die ſchuldigen noch die verantwortlichen Perſonen, und übt auf den nicht betroffenen Stat, den man nöthigen will, eine höchſt zweifelhafte, nur ſehr mittelbare Einwirkung aus. Gerecht- fertigt wird ſie daher höchſtens als Gegenrecht, wenn zuvor der gegneriſche Stat ähnliches Unrecht gegen Private verübt hat, welche auf den Schutz des eigenen

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/301>, abgerufen am 24.11.2024.