Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herstellung desselben.
469.
Art und Maß der Entschädigung, der Genugthuung, der Sühne richten sich nach der Art und dem Umfang der Verletzung. Je größer die Schuld, um so schwerer ihre Folgen. Zwischen beiden ist der Grundsatz der Verhältnißmäßigkeit zu beachten. Uebertriebene Forderungen sind widerrechtlich.
Im Privat- und Strafrecht werden die Folgen des Unrechts zum voraus gesetzlich geregelt. Im Völkerrecht fehlt es daran. Vielmehr ist das Einzelne dem Einverständniß oder dem Kampf der Parteien überlassen, die keinen Richter über sich haben. Man kann daher nur den allgemeinen Grundsatz der Verhält- nißmäßigkeit aussprechen, welcher dem natürlichen Rechtsbewußtsein als noth- wendig erscheint. Bei Entschädigungsforderungen ist das selbstverständlich und doch haben auch da einzelne mächtige Staten zuweilen unverhältnißmäßige Summen ge- fordert und die Forderung durchgesetzt. Schwieriger ist es, bei politischen Verlangen das richtige Maß zu bestimmen. Insbesondere steigern sich im Krieg die Ansprüche so sehr, daß der ursprüngliche Streitgegenstand nicht mehr als maß- gebend zu betrachten ist. Vgl. unten Buch VIII.
470.
Wenn für Ehrenkränkungen und Verletzungen der Statswürde Ge- nugthuung gefordert wird, so darf doch dem dafür verantwortlichen State keine mit der Fortdauer und Würde eines selbständigen States unverträg- liche Demüthigung zugemuthet werden.
Je feiner das ausgebildete Ehrgefühl der civilisirten Welt ist, um so sorg- fältiger ist diese Regel zu beachten. Im Verhältniß der starken Staten wird dieselbe schon aus Klugheit eher beachtet; schwachen Staten wird leichter Ungebührliches auf- genöthigt. Indessen kann ein Stat, der die personificirte Rechtsordnung und Ehre eines Volkes ist, eine offenbare Schmach nicht ertragen, ohne in seiner Existenz gefährdet zu werden. Daher muß das Völkerrecht, welches für den gesicher- ten Fortbestand der Staten sorgt, eine derartige Demüthigung eines Stats unter- sagen. Verdient ein Stat nicht mehr als eine ehrenhafte Person behandelt zu wer- den, so ist es besser, ihm überhaupt nicht mehr eine statliche Selbständigkeit zuzu- gestehn.
471.
Wenn die Verletzung des Völkerrechts gemeingefährlich ist, so ist nicht allein der verletzte Stat, sondern es sind die übrigen Staten, welche
Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
469.
Art und Maß der Entſchädigung, der Genugthuung, der Sühne richten ſich nach der Art und dem Umfang der Verletzung. Je größer die Schuld, um ſo ſchwerer ihre Folgen. Zwiſchen beiden iſt der Grundſatz der Verhältnißmäßigkeit zu beachten. Uebertriebene Forderungen ſind widerrechtlich.
Im Privat- und Strafrecht werden die Folgen des Unrechts zum voraus geſetzlich geregelt. Im Völkerrecht fehlt es daran. Vielmehr iſt das Einzelne dem Einverſtändniß oder dem Kampf der Parteien überlaſſen, die keinen Richter über ſich haben. Man kann daher nur den allgemeinen Grundſatz der Verhält- nißmäßigkeit ausſprechen, welcher dem natürlichen Rechtsbewußtſein als noth- wendig erſcheint. Bei Entſchädigungsforderungen iſt das ſelbſtverſtändlich und doch haben auch da einzelne mächtige Staten zuweilen unverhältnißmäßige Summen ge- fordert und die Forderung durchgeſetzt. Schwieriger iſt es, bei politiſchen Verlangen das richtige Maß zu beſtimmen. Insbeſondere ſteigern ſich im Krieg die Anſprüche ſo ſehr, daß der urſprüngliche Streitgegenſtand nicht mehr als maß- gebend zu betrachten iſt. Vgl. unten Buch VIII.
470.
Wenn für Ehrenkränkungen und Verletzungen der Statswürde Ge- nugthuung gefordert wird, ſo darf doch dem dafür verantwortlichen State keine mit der Fortdauer und Würde eines ſelbſtändigen States unverträg- liche Demüthigung zugemuthet werden.
Je feiner das ausgebildete Ehrgefühl der civiliſirten Welt iſt, um ſo ſorg- fältiger iſt dieſe Regel zu beachten. Im Verhältniß der ſtarken Staten wird dieſelbe ſchon aus Klugheit eher beachtet; ſchwachen Staten wird leichter Ungebührliches auf- genöthigt. Indeſſen kann ein Stat, der die perſonificirte Rechtsordnung und Ehre eines Volkes iſt, eine offenbare Schmach nicht ertragen, ohne in ſeiner Exiſtenz gefährdet zu werden. Daher muß das Völkerrecht, welches für den geſicher- ten Fortbeſtand der Staten ſorgt, eine derartige Demüthigung eines Stats unter- ſagen. Verdient ein Stat nicht mehr als eine ehrenhafte Perſon behandelt zu wer- den, ſo iſt es beſſer, ihm überhaupt nicht mehr eine ſtatliche Selbſtändigkeit zuzu- geſtehn.
471.
Wenn die Verletzung des Völkerrechts gemeingefährlich iſt, ſo iſt nicht allein der verletzte Stat, ſondern es ſind die übrigen Staten, welche
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Verletzungen des Völkerrechts und Verfahren zur Herſtellung desſelben.
469.
Art und Maß der Entſchädigung, der Genugthuung, der Sühne
richten ſich nach der Art und dem Umfang der Verletzung. Je größer die
Schuld, um ſo ſchwerer ihre Folgen. Zwiſchen beiden iſt der Grundſatz
der Verhältnißmäßigkeit zu beachten. Uebertriebene Forderungen ſind
widerrechtlich.
Im Privat- und Strafrecht werden die Folgen des Unrechts zum voraus
geſetzlich geregelt. Im Völkerrecht fehlt es daran. Vielmehr iſt das Einzelne
dem Einverſtändniß oder dem Kampf der Parteien überlaſſen, die keinen Richter
über ſich haben. Man kann daher nur den allgemeinen Grundſatz der Verhält-
nißmäßigkeit ausſprechen, welcher dem natürlichen Rechtsbewußtſein als noth-
wendig erſcheint. Bei Entſchädigungsforderungen iſt das ſelbſtverſtändlich und doch
haben auch da einzelne mächtige Staten zuweilen unverhältnißmäßige Summen ge-
fordert und die Forderung durchgeſetzt. Schwieriger iſt es, bei politiſchen Verlangen
das richtige Maß zu beſtimmen. Insbeſondere ſteigern ſich im Krieg die Anſprüche
ſo ſehr, daß der urſprüngliche Streitgegenſtand nicht mehr als maß-
gebend zu betrachten iſt. Vgl. unten Buch VIII.
470.
Wenn für Ehrenkränkungen und Verletzungen der Statswürde Ge-
nugthuung gefordert wird, ſo darf doch dem dafür verantwortlichen State
keine mit der Fortdauer und Würde eines ſelbſtändigen States unverträg-
liche Demüthigung zugemuthet werden.
Je feiner das ausgebildete Ehrgefühl der civiliſirten Welt iſt, um ſo ſorg-
fältiger iſt dieſe Regel zu beachten. Im Verhältniß der ſtarken Staten wird dieſelbe
ſchon aus Klugheit eher beachtet; ſchwachen Staten wird leichter Ungebührliches auf-
genöthigt. Indeſſen kann ein Stat, der die perſonificirte Rechtsordnung
und Ehre eines Volkes iſt, eine offenbare Schmach nicht ertragen, ohne in ſeiner
Exiſtenz gefährdet zu werden. Daher muß das Völkerrecht, welches für den geſicher-
ten Fortbeſtand der Staten ſorgt, eine derartige Demüthigung eines Stats unter-
ſagen. Verdient ein Stat nicht mehr als eine ehrenhafte Perſon behandelt zu wer-
den, ſo iſt es beſſer, ihm überhaupt nicht mehr eine ſtatliche Selbſtändigkeit zuzu-
geſtehn.
471.
Wenn die Verletzung des Völkerrechts gemeingefährlich iſt, ſo iſt
nicht allein der verletzte Stat, ſondern es ſind die übrigen Staten, welche
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/285>, abgerufen am 25.11.2024.
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