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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Völkerrechtliche Verträge.
werden, um sich der Pflicht zur Bundeshülfe zu entziehn. Das ist oft schon gesche-
hen und wird wieder geschehn. Aber so tadelnswerth der Mißbrauch ist, so unent-
behrlich und unbestreitbar ist jener Rechtssatz selber, wenn er bona fide verstanden
und angewendet wird. Wenn militärische Gründe einer wirksamen Kriegsführung
verlangen, daß die Truppen aller Bundesgenossen zusammengezogen und einstweilen
das Gebiet eines States Preis gegeben werden, so widerstreitet diese Forderung nicht
der obigen Regel, denn diese Maßregel gibt nicht der Bundeshülfe den Vorzug vor
der Selbsthülfe, sondern schließt die Selbsthülfe in sich. Wenn die Bundes-
genossen in Folge der Concentrirung aller ihrer Kräfte siegen, so wird auch jedem
verbündeten State am sichersten geholfen und das vorübergehende Leiden feindlicher
Besitznahme am sichersten geheilt. Im Uebrigen gilt das Ultra posse nemo
tenetur
ganz vorzüglich, wenn Verbindlichkeiten der Staten in Frage sind.

449.

Bei der Auslegung und Anwendung der Allianzverträge ist beider-
seits mit ehrlicher Treue, in gutem Glauben und aufrichtiger Freundschaft
zu verfahren.

1. Diese moralischen Rücksichten dürfen überhaupt bei der Interpretation der
Statenverträge nicht übersehen werden. Bei den Allianzen, die ein Freundschafts-
verhältniß unter den Alliirten begründen, ist es im höchsten Grade nöthig, daß die-
selben sorgfältig beachtet werden. Wird der Glaube und das Vertrauen der Alliirten
auf aufrichtige Unterstützung zerstört, so ist die Allianz eine todte Form, aus der
das Leben gewichen ist, und muß zerfallen. Die Frage, ob wirklich der vorgesehene
Fall eingetreten sei, in welchem die Hülfe des Alliirten begehrt werden darf und ge-
leistet werden muß (der sogenannte casus foederis), kann selten anders als
nach Erwägung aller Umstände durch freies Ermessen entschieden werden und dafür
ist die bona fides unentbehrlich. Ebenso sind die Art, die Größe und die Dauer
der Hülfe in den Verträgen nicht leicht zum voraus genau zu fixiren und muß
man wieder mit bona fides das Bedürfniß und die verfügbaren Mittel bestimmen.

2. Auch die Frage, inwiefern es gegen den guten Glauben und die Treue ver-
stoße, wenn ein Alliirter durch Unterhandlungen mit einem dritten State die Inter-
essen des andern Alliirten gefährdet oder verletzt, läßt sich nicht durch eine formelle
Rechtsregel ohne moralische Erwägungen richtig entscheiden. Die Treue der Al-
liirten
ist jedenfalls nur als wechselseitiges Recht und gegenseitige
Pflicht
aufrecht zu erhalten.


Völkerrechtliche Verträge.
werden, um ſich der Pflicht zur Bundeshülfe zu entziehn. Das iſt oft ſchon geſche-
hen und wird wieder geſchehn. Aber ſo tadelnswerth der Mißbrauch iſt, ſo unent-
behrlich und unbeſtreitbar iſt jener Rechtsſatz ſelber, wenn er bona fide verſtanden
und angewendet wird. Wenn militäriſche Gründe einer wirkſamen Kriegsführung
verlangen, daß die Truppen aller Bundesgenoſſen zuſammengezogen und einſtweilen
das Gebiet eines States Preis gegeben werden, ſo widerſtreitet dieſe Forderung nicht
der obigen Regel, denn dieſe Maßregel gibt nicht der Bundeshülfe den Vorzug vor
der Selbſthülfe, ſondern ſchließt die Selbſthülfe in ſich. Wenn die Bundes-
genoſſen in Folge der Concentrirung aller ihrer Kräfte ſiegen, ſo wird auch jedem
verbündeten State am ſicherſten geholfen und das vorübergehende Leiden feindlicher
Beſitznahme am ſicherſten geheilt. Im Uebrigen gilt das Ultra posse nemo
tenetur
ganz vorzüglich, wenn Verbindlichkeiten der Staten in Frage ſind.

449.

Bei der Auslegung und Anwendung der Allianzverträge iſt beider-
ſeits mit ehrlicher Treue, in gutem Glauben und aufrichtiger Freundſchaft
zu verfahren.

1. Dieſe moraliſchen Rückſichten dürfen überhaupt bei der Interpretation der
Statenverträge nicht überſehen werden. Bei den Allianzen, die ein Freundſchafts-
verhältniß unter den Alliirten begründen, iſt es im höchſten Grade nöthig, daß die-
ſelben ſorgfältig beachtet werden. Wird der Glaube und das Vertrauen der Alliirten
auf aufrichtige Unterſtützung zerſtört, ſo iſt die Allianz eine todte Form, aus der
das Leben gewichen iſt, und muß zerfallen. Die Frage, ob wirklich der vorgeſehene
Fall eingetreten ſei, in welchem die Hülfe des Alliirten begehrt werden darf und ge-
leiſtet werden muß (der ſogenannte casus foederis), kann ſelten anders als
nach Erwägung aller Umſtände durch freies Ermeſſen entſchieden werden und dafür
iſt die bona fides unentbehrlich. Ebenſo ſind die Art, die Größe und die Dauer
der Hülfe in den Verträgen nicht leicht zum voraus genau zu fixiren und muß
man wieder mit bona fides das Bedürfniß und die verfügbaren Mittel beſtimmen.

2. Auch die Frage, inwiefern es gegen den guten Glauben und die Treue ver-
ſtoße, wenn ein Alliirter durch Unterhandlungen mit einem dritten State die Inter-
eſſen des andern Alliirten gefährdet oder verletzt, läßt ſich nicht durch eine formelle
Rechtsregel ohne moraliſche Erwägungen richtig entſcheiden. Die Treue der Al-
liirten
iſt jedenfalls nur als wechſelſeitiges Recht und gegenſeitige
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aufrecht zu erhalten.


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[253/0275] Völkerrechtliche Verträge. werden, um ſich der Pflicht zur Bundeshülfe zu entziehn. Das iſt oft ſchon geſche- hen und wird wieder geſchehn. Aber ſo tadelnswerth der Mißbrauch iſt, ſo unent- behrlich und unbeſtreitbar iſt jener Rechtsſatz ſelber, wenn er bona fide verſtanden und angewendet wird. Wenn militäriſche Gründe einer wirkſamen Kriegsführung verlangen, daß die Truppen aller Bundesgenoſſen zuſammengezogen und einſtweilen das Gebiet eines States Preis gegeben werden, ſo widerſtreitet dieſe Forderung nicht der obigen Regel, denn dieſe Maßregel gibt nicht der Bundeshülfe den Vorzug vor der Selbſthülfe, ſondern ſchließt die Selbſthülfe in ſich. Wenn die Bundes- genoſſen in Folge der Concentrirung aller ihrer Kräfte ſiegen, ſo wird auch jedem verbündeten State am ſicherſten geholfen und das vorübergehende Leiden feindlicher Beſitznahme am ſicherſten geheilt. Im Uebrigen gilt das Ultra posse nemo tenetur ganz vorzüglich, wenn Verbindlichkeiten der Staten in Frage ſind. 449. Bei der Auslegung und Anwendung der Allianzverträge iſt beider- ſeits mit ehrlicher Treue, in gutem Glauben und aufrichtiger Freundſchaft zu verfahren. 1. Dieſe moraliſchen Rückſichten dürfen überhaupt bei der Interpretation der Statenverträge nicht überſehen werden. Bei den Allianzen, die ein Freundſchafts- verhältniß unter den Alliirten begründen, iſt es im höchſten Grade nöthig, daß die- ſelben ſorgfältig beachtet werden. Wird der Glaube und das Vertrauen der Alliirten auf aufrichtige Unterſtützung zerſtört, ſo iſt die Allianz eine todte Form, aus der das Leben gewichen iſt, und muß zerfallen. Die Frage, ob wirklich der vorgeſehene Fall eingetreten ſei, in welchem die Hülfe des Alliirten begehrt werden darf und ge- leiſtet werden muß (der ſogenannte casus foederis), kann ſelten anders als nach Erwägung aller Umſtände durch freies Ermeſſen entſchieden werden und dafür iſt die bona fides unentbehrlich. Ebenſo ſind die Art, die Größe und die Dauer der Hülfe in den Verträgen nicht leicht zum voraus genau zu fixiren und muß man wieder mit bona fides das Bedürfniß und die verfügbaren Mittel beſtimmen. 2. Auch die Frage, inwiefern es gegen den guten Glauben und die Treue ver- ſtoße, wenn ein Alliirter durch Unterhandlungen mit einem dritten State die Inter- eſſen des andern Alliirten gefährdet oder verletzt, läßt ſich nicht durch eine formelle Rechtsregel ohne moraliſche Erwägungen richtig entſcheiden. Die Treue der Al- liirten iſt jedenfalls nur als wechſelſeitiges Recht und gegenſeitige Pflicht aufrecht zu erhalten.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/275>, abgerufen am 26.11.2024.