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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868.

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Fünftes Buch.

Heimatlose werden die Personen genannt, deren Statsangehörigkeit un-
sicher ist. In der civilisirten Statenwelt besteht ein allgemeines Interesse, daß es
keine Heimatlosen gebe. Sie sind eine Ausnahme von der wichtigen Regel, daß die
Individuen im Statsverbande leben und meistens auch eine Gefahr für die Sicher-
heit der Gesellschaft. Daher die Versuche, die Fälle der Heimatlosigkeit möglichst zu
beschränken. Die Convention der deutschen Staten vom 15. Juni 1851
bestimmt, daß jeder Stat Personen, welche keinem der Staten erweislich zugehören,
dann als Angehörige bei sich aufnehmen müsse, wenn dieselben fünf Jahre lang als
Volljährige sich in seinem Gebiete aufgehalten oder als Eheleute daselbst auch nur
sechs Wochen lang gewohnt oder daselbst ihre Ehe geschlossen haben, eventuell, wenn
sie in diesem Lande geboren sind. Der wechselseitige Zuschub von heimatlosen Per-
sonen von einem State zum andern ist nicht bloß inhuman, sondern auch mit Ge-
fahren für die Sittlichkeit und die Sicherheit verbunden und eine Quelle von un-
nützen Streitigkeiten zwischen den Nachbarstaten.

370.

Wie der freie Mensch nicht an die Scholle gebunden ist, so ist auch
der freie Statsbürger nicht an das Land seiner Heimat gebunden.

Die Verhältnisse in beiden Fällen sind allerdings nicht gleich, denn im ersten
Fall wird nur das Verhältniß einer Person zu einer Sache, dem Grund-
stück gelöst und es ist selbstverständlich, daß der Sache kein Recht zukommt, die
Person an sich zu fesseln. Im zweiten Fall dagegen wird der Verband zwischen
dem einzelnen Statsgenossen und dem ganzen Stat gelöst, also der Verband
zwischen zwei Personen
, von denen überdem die letztere der erstern übergeordnet
ist. Indem die frühere Rechtsbildung diese Abhängigkeit betonte, sprach sie den ent-
gegengesetzten Grundsatz aus, daß kein Statsgenosse willkürlich auf seine Statsange-
hörigkeit verzichten, beziehungsweise aus seinem Unterthanenverband austreten dürfe.
Heute noch hält das englische Statsrecht diesen Grundsatz im Princip fest, wenn
gleich es in der Praxis der Auswanderung keine ernsten Hindernisse bereitet. Viele
Statsrechte legen wenigstens noch auf die Form der "Entlassung" aus dem
Statsverband einen Werth. Aber allmählich hat doch die Ansicht Geltung erlangt,
daß es des States unwürdig sei, seine Angehörigen wider Willen fest zu halten, als
wären sie Statshörige, und daß es für die heutige Civilisation und den reicheren
Wechselverkehr der Nationen weit ersprießlicher sei, die volle Auswanderungs-
freiheit
anzuerkennen.

371.

Durch die vollzogene Auswanderung wird das Band gelöst, durch
welches der Auswanderer bisher mit seinem frühern Heimatlande verbun-
den war.

Fünftes Buch.

Heimatloſe werden die Perſonen genannt, deren Statsangehörigkeit un-
ſicher iſt. In der civiliſirten Statenwelt beſteht ein allgemeines Intereſſe, daß es
keine Heimatloſen gebe. Sie ſind eine Ausnahme von der wichtigen Regel, daß die
Individuen im Statsverbande leben und meiſtens auch eine Gefahr für die Sicher-
heit der Geſellſchaft. Daher die Verſuche, die Fälle der Heimatloſigkeit möglichſt zu
beſchränken. Die Convention der deutſchen Staten vom 15. Juni 1851
beſtimmt, daß jeder Stat Perſonen, welche keinem der Staten erweislich zugehören,
dann als Angehörige bei ſich aufnehmen müſſe, wenn dieſelben fünf Jahre lang als
Volljährige ſich in ſeinem Gebiete aufgehalten oder als Eheleute daſelbſt auch nur
ſechs Wochen lang gewohnt oder daſelbſt ihre Ehe geſchloſſen haben, eventuell, wenn
ſie in dieſem Lande geboren ſind. Der wechſelſeitige Zuſchub von heimatloſen Per-
ſonen von einem State zum andern iſt nicht bloß inhuman, ſondern auch mit Ge-
fahren für die Sittlichkeit und die Sicherheit verbunden und eine Quelle von un-
nützen Streitigkeiten zwiſchen den Nachbarſtaten.

370.

Wie der freie Menſch nicht an die Scholle gebunden iſt, ſo iſt auch
der freie Statsbürger nicht an das Land ſeiner Heimat gebunden.

Die Verhältniſſe in beiden Fällen ſind allerdings nicht gleich, denn im erſten
Fall wird nur das Verhältniß einer Perſon zu einer Sache, dem Grund-
ſtück gelöst und es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Sache kein Recht zukommt, die
Perſon an ſich zu feſſeln. Im zweiten Fall dagegen wird der Verband zwiſchen
dem einzelnen Statsgenoſſen und dem ganzen Stat gelöst, alſo der Verband
zwiſchen zwei Perſonen
, von denen überdem die letztere der erſtern übergeordnet
iſt. Indem die frühere Rechtsbildung dieſe Abhängigkeit betonte, ſprach ſie den ent-
gegengeſetzten Grundſatz aus, daß kein Statsgenoſſe willkürlich auf ſeine Statsange-
hörigkeit verzichten, beziehungsweiſe aus ſeinem Unterthanenverband austreten dürfe.
Heute noch hält das engliſche Statsrecht dieſen Grundſatz im Princip feſt, wenn
gleich es in der Praxis der Auswanderung keine ernſten Hinderniſſe bereitet. Viele
Statsrechte legen wenigſtens noch auf die Form der „Entlaſſung“ aus dem
Statsverband einen Werth. Aber allmählich hat doch die Anſicht Geltung erlangt,
daß es des States unwürdig ſei, ſeine Angehörigen wider Willen feſt zu halten, als
wären ſie Statshörige, und daß es für die heutige Civiliſation und den reicheren
Wechſelverkehr der Nationen weit erſprießlicher ſei, die volle Auswanderungs-
freiheit
anzuerkennen.

371.

Durch die vollzogene Auswanderung wird das Band gelöst, durch
welches der Auswanderer bisher mit ſeinem frühern Heimatlande verbun-
den war.

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[214/0236] Fünftes Buch. Heimatloſe werden die Perſonen genannt, deren Statsangehörigkeit un- ſicher iſt. In der civiliſirten Statenwelt beſteht ein allgemeines Intereſſe, daß es keine Heimatloſen gebe. Sie ſind eine Ausnahme von der wichtigen Regel, daß die Individuen im Statsverbande leben und meiſtens auch eine Gefahr für die Sicher- heit der Geſellſchaft. Daher die Verſuche, die Fälle der Heimatloſigkeit möglichſt zu beſchränken. Die Convention der deutſchen Staten vom 15. Juni 1851 beſtimmt, daß jeder Stat Perſonen, welche keinem der Staten erweislich zugehören, dann als Angehörige bei ſich aufnehmen müſſe, wenn dieſelben fünf Jahre lang als Volljährige ſich in ſeinem Gebiete aufgehalten oder als Eheleute daſelbſt auch nur ſechs Wochen lang gewohnt oder daſelbſt ihre Ehe geſchloſſen haben, eventuell, wenn ſie in dieſem Lande geboren ſind. Der wechſelſeitige Zuſchub von heimatloſen Per- ſonen von einem State zum andern iſt nicht bloß inhuman, ſondern auch mit Ge- fahren für die Sittlichkeit und die Sicherheit verbunden und eine Quelle von un- nützen Streitigkeiten zwiſchen den Nachbarſtaten. 370. Wie der freie Menſch nicht an die Scholle gebunden iſt, ſo iſt auch der freie Statsbürger nicht an das Land ſeiner Heimat gebunden. Die Verhältniſſe in beiden Fällen ſind allerdings nicht gleich, denn im erſten Fall wird nur das Verhältniß einer Perſon zu einer Sache, dem Grund- ſtück gelöst und es iſt ſelbſtverſtändlich, daß der Sache kein Recht zukommt, die Perſon an ſich zu feſſeln. Im zweiten Fall dagegen wird der Verband zwiſchen dem einzelnen Statsgenoſſen und dem ganzen Stat gelöst, alſo der Verband zwiſchen zwei Perſonen, von denen überdem die letztere der erſtern übergeordnet iſt. Indem die frühere Rechtsbildung dieſe Abhängigkeit betonte, ſprach ſie den ent- gegengeſetzten Grundſatz aus, daß kein Statsgenoſſe willkürlich auf ſeine Statsange- hörigkeit verzichten, beziehungsweiſe aus ſeinem Unterthanenverband austreten dürfe. Heute noch hält das engliſche Statsrecht dieſen Grundſatz im Princip feſt, wenn gleich es in der Praxis der Auswanderung keine ernſten Hinderniſſe bereitet. Viele Statsrechte legen wenigſtens noch auf die Form der „Entlaſſung“ aus dem Statsverband einen Werth. Aber allmählich hat doch die Anſicht Geltung erlangt, daß es des States unwürdig ſei, ſeine Angehörigen wider Willen feſt zu halten, als wären ſie Statshörige, und daß es für die heutige Civiliſation und den reicheren Wechſelverkehr der Nationen weit erſprießlicher ſei, die volle Auswanderungs- freiheit anzuerkennen. 371. Durch die vollzogene Auswanderung wird das Band gelöst, durch welches der Auswanderer bisher mit ſeinem frühern Heimatlande verbun- den war.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/236>, abgerufen am 27.11.2024.