Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
3. Oeffentliche Gewässer. Die Meeresfreiheit.
304.
Das Meer ist von Natur zur Sonderherrschaft ungeeignet und dem gemeinen Gebrauch aller Nationen geöffnet. Das Meer ist frei.
An dem offenen, freien Meer ist keine Gebietshoheit eines einzelnen States oder mehrer verbundener Staten möglich und zulässig.
Noch im siebzehnten Jahrhundert versuchten es einzelne Staten, sich eine ausschließliche Seeherrschaft über bestimmte Meere anzumaßen und andern Nationen die Schiffahrt oder Fischerei daselbst zu verbieten. So z. B. Por- tugal und Spanien in den Ost- und Westindischen Meeren unter Berufung auf die Verleihung des Papstes. Auch England behauptete ein besonderes Recht auf die Meere zu haben, welche die britischen Inseln umfließen. Gegen diese Anmaßung erhob sich Hugo Groot in seiner berühmten Schrift "mare liberum" (Utrecht 1609) mit wissenschaftlichen Gründen. Dem heutigen Rechtsbewußtsein der Mensch- heit ist die Freiheit des Meeres von jeder Statsherrschaft nicht mehr zweifelhaft; und die seefahrenden Völker üben diese Freiheit in allen Richtungen unangefochten aus. In Folge dessen ist der größere Theil der Erdoberfläche allen Völkern gemeinsam und dient so dem menschlichen Verkehr.
305.
Das heutige Völkerrecht gestattet nicht mehr die Abschließung eines Meeres von dem Weltverkehr, welches von Natur oder durch menschliche Cultur der Schiffahrt zugänglich und mit der offenen freien See verbun- den ist, auch dann nicht, wenn jenes Meer von einem Statsgebiet um- schlossen ist.
In alter Zeit war diese Regel noch nicht anerkannt. Die Phönizier und Karthager betrachteten das mittelländische Meer großen Theils als ihre See, ebenso später die Römer. Dänemark machte eine Zeit lang ähnliche Ansprüche der Herrschaft über das Baltische Meer; die Republik Venedig wollte im Adriati- schen Meer allein herrschen, die Republik Genua im ligurischen Meer, die Türkei behauptete, daß das Aegäische wie das Marmarameer ihr Eigenthum sei, Rußland weigerte fremden Nationen die Seefahrt auf dem schwarzen Meer. Alle diese Prätensionen mußten schließlich der steigenden Anerkennung der Meeres- freiheit weichen. Durch die Pariser Congreßacte von 1856 Art. II. ist der Satz ausgesprochen worden: "La mer Noire est neutralisee, ouverte a la marine mar- chande de toutes les nations".
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
3. Oeffentliche Gewäſſer. Die Meeresfreiheit.
304.
Das Meer iſt von Natur zur Sonderherrſchaft ungeeignet und dem gemeinen Gebrauch aller Nationen geöffnet. Das Meer iſt frei.
An dem offenen, freien Meer iſt keine Gebietshoheit eines einzelnen States oder mehrer verbundener Staten möglich und zuläſſig.
Noch im ſiebzehnten Jahrhundert verſuchten es einzelne Staten, ſich eine ausſchließliche Seeherrſchaft über beſtimmte Meere anzumaßen und andern Nationen die Schiffahrt oder Fiſcherei daſelbſt zu verbieten. So z. B. Por- tugal und Spanien in den Oſt- und Weſtindiſchen Meeren unter Berufung auf die Verleihung des Papſtes. Auch England behauptete ein beſonderes Recht auf die Meere zu haben, welche die britiſchen Inſeln umfließen. Gegen dieſe Anmaßung erhob ſich Hugo Groot in ſeiner berühmten Schrift „mare liberum“ (Utrecht 1609) mit wiſſenſchaftlichen Gründen. Dem heutigen Rechtsbewußtſein der Menſch- heit iſt die Freiheit des Meeres von jeder Statsherrſchaft nicht mehr zweifelhaft; und die ſeefahrenden Völker üben dieſe Freiheit in allen Richtungen unangefochten aus. In Folge deſſen iſt der größere Theil der Erdoberfläche allen Völkern gemeinſam und dient ſo dem menſchlichen Verkehr.
305.
Das heutige Völkerrecht geſtattet nicht mehr die Abſchließung eines Meeres von dem Weltverkehr, welches von Natur oder durch menſchliche Cultur der Schiffahrt zugänglich und mit der offenen freien See verbun- den iſt, auch dann nicht, wenn jenes Meer von einem Statsgebiet um- ſchloſſen iſt.
In alter Zeit war dieſe Regel noch nicht anerkannt. Die Phönizier und Karthager betrachteten das mittelländiſche Meer großen Theils als ihre See, ebenſo ſpäter die Römer. Dänemark machte eine Zeit lang ähnliche Anſprüche der Herrſchaft über das Baltiſche Meer; die Republik Venedig wollte im Adriati- ſchen Meer allein herrſchen, die Republik Genua im liguriſchen Meer, die Türkei behauptete, daß das Aegäiſche wie das Marmarameer ihr Eigenthum ſei, Rußland weigerte fremden Nationen die Seefahrt auf dem ſchwarzen Meer. Alle dieſe Prätenſionen mußten ſchließlich der ſteigenden Anerkennung der Meeres- freiheit weichen. Durch die Pariſer Congreßacte von 1856 Art. II. iſt der Satz ausgeſprochen worden: „La mer Noire est neutralisée, ouverte à la marine mar- chande de toutes les nations“.
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
3. Oeffentliche Gewäſſer. Die Meeresfreiheit.
304.
Das Meer iſt von Natur zur Sonderherrſchaft ungeeignet und dem
gemeinen Gebrauch aller Nationen geöffnet. Das Meer iſt frei.
An dem offenen, freien Meer iſt keine Gebietshoheit eines einzelnen
States oder mehrer verbundener Staten möglich und zuläſſig.
Noch im ſiebzehnten Jahrhundert verſuchten es einzelne Staten, ſich eine
ausſchließliche Seeherrſchaft über beſtimmte Meere anzumaßen und
andern Nationen die Schiffahrt oder Fiſcherei daſelbſt zu verbieten. So z. B. Por-
tugal und Spanien in den Oſt- und Weſtindiſchen Meeren unter Berufung auf die
Verleihung des Papſtes. Auch England behauptete ein beſonderes Recht auf die
Meere zu haben, welche die britiſchen Inſeln umfließen. Gegen dieſe Anmaßung
erhob ſich Hugo Groot in ſeiner berühmten Schrift „mare liberum“ (Utrecht
1609) mit wiſſenſchaftlichen Gründen. Dem heutigen Rechtsbewußtſein der Menſch-
heit iſt die Freiheit des Meeres von jeder Statsherrſchaft nicht mehr zweifelhaft;
und die ſeefahrenden Völker üben dieſe Freiheit in allen Richtungen unangefochten
aus. In Folge deſſen iſt der größere Theil der Erdoberfläche allen Völkern
gemeinſam und dient ſo dem menſchlichen Verkehr.
305.
Das heutige Völkerrecht geſtattet nicht mehr die Abſchließung eines
Meeres von dem Weltverkehr, welches von Natur oder durch menſchliche
Cultur der Schiffahrt zugänglich und mit der offenen freien See verbun-
den iſt, auch dann nicht, wenn jenes Meer von einem Statsgebiet um-
ſchloſſen iſt.
In alter Zeit war dieſe Regel noch nicht anerkannt. Die Phönizier und
Karthager betrachteten das mittelländiſche Meer großen Theils als ihre See,
ebenſo ſpäter die Römer. Dänemark machte eine Zeit lang ähnliche Anſprüche der
Herrſchaft über das Baltiſche Meer; die Republik Venedig wollte im Adriati-
ſchen Meer allein herrſchen, die Republik Genua im liguriſchen Meer, die Türkei
behauptete, daß das Aegäiſche wie das Marmarameer ihr Eigenthum ſei,
Rußland weigerte fremden Nationen die Seefahrt auf dem ſchwarzen Meer.
Alle dieſe Prätenſionen mußten ſchließlich der ſteigenden Anerkennung der Meeres-
freiheit weichen. Durch die Pariſer Congreßacte von 1856 Art. II. iſt der Satz
ausgeſprochen worden: „La mer Noire est neutralisée, ouverte à la marine mar-
chande de toutes les nations“.
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/201>, abgerufen am 24.11.2024.
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