Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
den Fortschritt einer größeren (nationalen) Lebensgemeinschaft möglich zu machen, zu welcher die Bevölkerung sich verwandt und zugehörig fühlt. Beispiele sind in neuerer Zeit die Beseitigung des souveränen Fürstenthums Neuchatel und der Eintritt dieses Cantons in den schweizerischen Bundesstat, und noch deutlicher die Einverleibung der italienischen Fürstenthümer Toscana, Mo- dena und Parma in das Königreich Italien.
4. Wenn sich ein neuer Stat bildet, vielleicht aus einer größern Zahl von verbundenen alten Staten, oder aus Stücken derselben, so entsteht immer zugleich eine neue Gebietshoheit jenes Stats und eine theilweise oder gänzliche Verdrängung der bisherigen Gebietshoheit der alten Staten. Die Grundsätze über neue Statenbildung und Anerkennung neuer Staten (§ 28 ff.) finden somit hier wieder Anwendung. Ganz wie die ursprüngliche Statenbildung, so ist auch die Statsentwicklung, sobald sie als nothwendig sich erweist, geeignet, eine bisherige Gebietshoheit zu Gunsten einer neuen Statshoheit zu beseitigen. Diese Umgestaltung kann möglicher Weise von der Bevölkerung der einverleibten Theile nicht gewünscht werden und dennoch nothwendig und deßhalb gerechtfertigt sein. Die Säcularisation der geistlichen Fürstenthümer in Deutschland und die Einverleibung ihrer Gebiete in die benachbarten Staten zu Anfang dieses Jahrhunderts, die gleichzeitige Mediatisirung zahlreicher bisher reichsunmittelbarer Herrschaften, und wenig- stens theilweise auch die im Jahr 1866 vollzogene Einverleibung von Hannover, Kurhessen, Nassau, Schleswig-Holstein und Frankfurt in Preußen sind aus dieser nothwendigen Entwicklung des modernen deutschen Statslebens zu erklären. Indem sich die Nation als Eins fühlt, und zum Volke wird, schafft sie sich mit Recht die Bedingungen ihres statlichen Gesammt- lebens, und es steht den Theilen das Recht nicht zu, das Leben des Ganzen zu verhindern.
289.
Obwohl die Eroberung eines statlichen Gebietstheils im Krieg zunächst in der Form kriegerischer Gewalt vollzogen wird, so begründet sie dennoch die Statshoheit über das eroberte Gebiet und wird als rechtmäßige Er- werbart betrachtet, insofern durch den Friedensschluß oder auch ohne solchen durch Aufhören des Widerstandes und Anerkennung von Seite der politisch berechtigten Bevölkerung die Fortdauer des neuen Statsverbandes als noth- wendig sich darstellt.
Von Alters her wird die Eroberung als Begründung einer neuen Stats- hoheit des Siegers über das eroberte Gebiet betrachtet, und man beruft sich dabei auf den Consensus gentium. Trotzdem sträubt sich das feiner empfindende Rechtsgefühl der heutigen Menschheit gegen diese Annahme; denn die Eroberung erscheint zunächst in der Gestalt eines Gewaltacts und nicht als Rechtsact. Die Gewalt ist aber keine natürliche Rechtsquelle, sondern umgekehrt das Recht hat
Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
den Fortſchritt einer größeren (nationalen) Lebensgemeinſchaft möglich zu machen, zu welcher die Bevölkerung ſich verwandt und zugehörig fühlt. Beiſpiele ſind in neuerer Zeit die Beſeitigung des ſouveränen Fürſtenthums Neuchatel und der Eintritt dieſes Cantons in den ſchweizeriſchen Bundesſtat, und noch deutlicher die Einverleibung der italieniſchen Fürſtenthümer Toscana, Mo- dena und Parma in das Königreich Italien.
4. Wenn ſich ein neuer Stat bildet, vielleicht aus einer größern Zahl von verbundenen alten Staten, oder aus Stücken derſelben, ſo entſteht immer zugleich eine neue Gebietshoheit jenes Stats und eine theilweiſe oder gänzliche Verdrängung der bisherigen Gebietshoheit der alten Staten. Die Grundſätze über neue Statenbildung und Anerkennung neuer Staten (§ 28 ff.) finden ſomit hier wieder Anwendung. Ganz wie die urſprüngliche Statenbildung, ſo iſt auch die Statsentwicklung, ſobald ſie als nothwendig ſich erweist, geeignet, eine bisherige Gebietshoheit zu Gunſten einer neuen Statshoheit zu beſeitigen. Dieſe Umgeſtaltung kann möglicher Weiſe von der Bevölkerung der einverleibten Theile nicht gewünſcht werden und dennoch nothwendig und deßhalb gerechtfertigt ſein. Die Säculariſation der geiſtlichen Fürſtenthümer in Deutſchland und die Einverleibung ihrer Gebiete in die benachbarten Staten zu Anfang dieſes Jahrhunderts, die gleichzeitige Mediatiſirung zahlreicher bisher reichsunmittelbarer Herrſchaften, und wenig- ſtens theilweiſe auch die im Jahr 1866 vollzogene Einverleibung von Hannover, Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt in Preußen ſind aus dieſer nothwendigen Entwicklung des modernen deutſchen Statslebens zu erklären. Indem ſich die Nation als Eins fühlt, und zum Volke wird, ſchafft ſie ſich mit Recht die Bedingungen ihres ſtatlichen Geſammt- lebens, und es ſteht den Theilen das Recht nicht zu, das Leben des Ganzen zu verhindern.
289.
Obwohl die Eroberung eines ſtatlichen Gebietstheils im Krieg zunächſt in der Form kriegeriſcher Gewalt vollzogen wird, ſo begründet ſie dennoch die Statshoheit über das eroberte Gebiet und wird als rechtmäßige Er- werbart betrachtet, inſofern durch den Friedensſchluß oder auch ohne ſolchen durch Aufhören des Widerſtandes und Anerkennung von Seite der politiſch berechtigten Bevölkerung die Fortdauer des neuen Statsverbandes als noth- wendig ſich darſtellt.
Von Alters her wird die Eroberung als Begründung einer neuen Stats- hoheit des Siegers über das eroberte Gebiet betrachtet, und man beruft ſich dabei auf den Consensus gentium. Trotzdem ſträubt ſich das feiner empfindende Rechtsgefühl der heutigen Menſchheit gegen dieſe Annahme; denn die Eroberung erſcheint zunächſt in der Geſtalt eines Gewaltacts und nicht als Rechtsact. Die Gewalt iſt aber keine natürliche Rechtsquelle, ſondern umgekehrt das Recht hat
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Die Statshoheit im Verhältniß zum Land. Gebietshoheit.
den Fortſchritt einer größeren (nationalen) Lebensgemeinſchaft möglich zu machen,
zu welcher die Bevölkerung ſich verwandt und zugehörig fühlt. Beiſpiele ſind in
neuerer Zeit die Beſeitigung des ſouveränen Fürſtenthums Neuchatel und
der Eintritt dieſes Cantons in den ſchweizeriſchen Bundesſtat, und noch
deutlicher die Einverleibung der italieniſchen Fürſtenthümer Toscana, Mo-
dena und Parma in das Königreich Italien.
4. Wenn ſich ein neuer Stat bildet, vielleicht aus einer größern Zahl von
verbundenen alten Staten, oder aus Stücken derſelben, ſo entſteht immer zugleich eine
neue Gebietshoheit jenes Stats und eine theilweiſe oder gänzliche Verdrängung der
bisherigen Gebietshoheit der alten Staten. Die Grundſätze über neue Statenbildung
und Anerkennung neuer Staten (§ 28 ff.) finden ſomit hier wieder Anwendung.
Ganz wie die urſprüngliche Statenbildung, ſo iſt auch die Statsentwicklung, ſobald
ſie als nothwendig ſich erweist, geeignet, eine bisherige Gebietshoheit zu Gunſten
einer neuen Statshoheit zu beſeitigen. Dieſe Umgeſtaltung kann möglicher Weiſe
von der Bevölkerung der einverleibten Theile nicht gewünſcht werden und dennoch
nothwendig und deßhalb gerechtfertigt ſein. Die Säculariſation
der geiſtlichen Fürſtenthümer in Deutſchland und die Einverleibung ihrer
Gebiete in die benachbarten Staten zu Anfang dieſes Jahrhunderts, die gleichzeitige
Mediatiſirung zahlreicher bisher reichsunmittelbarer Herrſchaften, und wenig-
ſtens theilweiſe auch die im Jahr 1866 vollzogene Einverleibung von Hannover,
Kurheſſen, Naſſau, Schleswig-Holſtein und Frankfurt in Preußen
ſind aus dieſer nothwendigen Entwicklung des modernen deutſchen
Statslebens zu erklären. Indem ſich die Nation als Eins fühlt, und zum
Volke wird, ſchafft ſie ſich mit Recht die Bedingungen ihres ſtatlichen Geſammt-
lebens, und es ſteht den Theilen das Recht nicht zu, das Leben des
Ganzen zu verhindern.
289.
Obwohl die Eroberung eines ſtatlichen Gebietstheils im Krieg zunächſt
in der Form kriegeriſcher Gewalt vollzogen wird, ſo begründet ſie dennoch
die Statshoheit über das eroberte Gebiet und wird als rechtmäßige Er-
werbart betrachtet, inſofern durch den Friedensſchluß oder auch ohne ſolchen
durch Aufhören des Widerſtandes und Anerkennung von Seite der politiſch
berechtigten Bevölkerung die Fortdauer des neuen Statsverbandes als noth-
wendig ſich darſtellt.
Von Alters her wird die Eroberung als Begründung einer neuen Stats-
hoheit des Siegers über das eroberte Gebiet betrachtet, und man beruft ſich dabei
auf den Consensus gentium. Trotzdem ſträubt ſich das feiner empfindende
Rechtsgefühl der heutigen Menſchheit gegen dieſe Annahme; denn die Eroberung
erſcheint zunächſt in der Geſtalt eines Gewaltacts und nicht als Rechtsact.
Die Gewalt iſt aber keine natürliche Rechtsquelle, ſondern umgekehrt das Recht hat
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/193>, abgerufen am 22.02.2025.
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