gang des bisherigen Stats und Einverleibung desselben in den erwerben- den Stat.
Es ist das daher strenge genommen nicht mehr Abtretung, sondern nur Ein- verleibung. Den Schein der Abtretung hat dieselbe, insofern sie in Form der Abtretung der Hoheitsrechte von Seite des bisherigen Fürsten an ein anderes Stats- haupt geschieht, wie z. B. in der rühmlichen Abtretung der Hohenzollerischen Fürsten- thümer an die Krone Preußen. Aber dem Wesen nach ist das Einverleibung, weil im entscheidenden Augenblick des Uebergangs nur Ein Stat übrig bleibt.
288.
Ohne Uebertragung des abtretenden Stats kann ein Statsgebiet, oder ein Theil desselben von einem andern State in Besitz genommen und rechtmäßig einverleibt werden:
a) in Folge der Verzichtleistung der bisherigen Statsgewalt auf die Statsherrschaft,
b) in Folge der wohlbegründeten Beseitigung der bisherigen Stats- gewalt durch die Bevölkerung und des freien Anschlusses derselben an den erwerbenden Stat,
c) in Folge des nothwendigen Fortschritts in der Entwicklung eines nationalen Stats.
In allen diesen Fällen ist die Anerkennung der neuen Statsgewalt durch die politisch berechtigte Bevölkerung des erworbenen Gebiets eine Bedingung des rechtmäßigen Erwerbs.
1. Diese Anerkennung (vgl. zu § 189) ist nicht nöthig zu thatsächlicher Un- terwerfung und Beherrschung, aber sie ist nothwendig, um dem neuen Erwerb den Stempel des Rechts aufzudrücken. In der Anerkennung wird die dauernde Noth- wendigkeit d. h. das Recht der veränderten Zustände offenbar.
2. Dem ausgesprochenen Verzicht steht das thatsächliche Verlassen des besesse- nen Gebietstheiles gleich.
Als die Römer ihre Beamten und ihre militärischen Stationen aus den Germanischen Ländern hinter die Grenzwälle und den Rhein zurückzogen, war das ein thatsächlicher Verzicht auf ihre Herrschaft außerhalb dieser Grenzen. Wenn ein moderner colonisirender Stat eine bisher besetzte Insel oder Küstengegend, ohne für den Statsschutz zu sorgen, verläßt, so kann ein anderer Stat rechtmäßiger Weise sich dieses Gebiets bemächtigen.
3. Wohlbegründet ist die Beseitigung der bisherigen Statsherrschaft, wenn dieselbe in einen ernsten und dauernden Widerspruch gerathen ist mit dem Recht oder mit der Wohlfahrt der Bevölkerung, so daß die gesicherte Existenz oder die Entwick- lung derselben eine Aenderung fordert, oder wenn dieselbe nothwendig erscheint, um
Viertes Buch.
gang des bisherigen Stats und Einverleibung desſelben in den erwerben- den Stat.
Es iſt das daher ſtrenge genommen nicht mehr Abtretung, ſondern nur Ein- verleibung. Den Schein der Abtretung hat dieſelbe, inſofern ſie in Form der Abtretung der Hoheitsrechte von Seite des bisherigen Fürſten an ein anderes Stats- haupt geſchieht, wie z. B. in der rühmlichen Abtretung der Hohenzolleriſchen Fürſten- thümer an die Krone Preußen. Aber dem Weſen nach iſt das Einverleibung, weil im entſcheidenden Augenblick des Uebergangs nur Ein Stat übrig bleibt.
288.
Ohne Uebertragung des abtretenden Stats kann ein Statsgebiet, oder ein Theil desſelben von einem andern State in Beſitz genommen und rechtmäßig einverleibt werden:
a) in Folge der Verzichtleiſtung der bisherigen Statsgewalt auf die Statsherrſchaft,
b) in Folge der wohlbegründeten Beſeitigung der bisherigen Stats- gewalt durch die Bevölkerung und des freien Anſchluſſes derſelben an den erwerbenden Stat,
c) in Folge des nothwendigen Fortſchritts in der Entwicklung eines nationalen Stats.
In allen dieſen Fällen iſt die Anerkennung der neuen Statsgewalt durch die politiſch berechtigte Bevölkerung des erworbenen Gebiets eine Bedingung des rechtmäßigen Erwerbs.
1. Dieſe Anerkennung (vgl. zu § 189) iſt nicht nöthig zu thatſächlicher Un- terwerfung und Beherrſchung, aber ſie iſt nothwendig, um dem neuen Erwerb den Stempel des Rechts aufzudrücken. In der Anerkennung wird die dauernde Noth- wendigkeit d. h. das Recht der veränderten Zuſtände offenbar.
2. Dem ausgeſprochenen Verzicht ſteht das thatſächliche Verlaſſen des beſeſſe- nen Gebietstheiles gleich.
Als die Römer ihre Beamten und ihre militäriſchen Stationen aus den Germaniſchen Ländern hinter die Grenzwälle und den Rhein zurückzogen, war das ein thatſächlicher Verzicht auf ihre Herrſchaft außerhalb dieſer Grenzen. Wenn ein moderner coloniſirender Stat eine bisher beſetzte Inſel oder Küſtengegend, ohne für den Statsſchutz zu ſorgen, verläßt, ſo kann ein anderer Stat rechtmäßiger Weiſe ſich dieſes Gebiets bemächtigen.
3. Wohlbegründet iſt die Beſeitigung der bisherigen Statsherrſchaft, wenn dieſelbe in einen ernſten und dauernden Widerſpruch gerathen iſt mit dem Recht oder mit der Wohlfahrt der Bevölkerung, ſo daß die geſicherte Exiſtenz oder die Entwick- lung derſelben eine Aenderung fordert, oder wenn dieſelbe nothwendig erſcheint, um
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Viertes Buch.
gang des bisherigen Stats und Einverleibung desſelben in den erwerben-
den Stat.
Es iſt das daher ſtrenge genommen nicht mehr Abtretung, ſondern nur Ein-
verleibung. Den Schein der Abtretung hat dieſelbe, inſofern ſie in Form der
Abtretung der Hoheitsrechte von Seite des bisherigen Fürſten an ein anderes Stats-
haupt geſchieht, wie z. B. in der rühmlichen Abtretung der Hohenzolleriſchen Fürſten-
thümer an die Krone Preußen. Aber dem Weſen nach iſt das Einverleibung, weil
im entſcheidenden Augenblick des Uebergangs nur Ein Stat übrig bleibt.
288.
Ohne Uebertragung des abtretenden Stats kann ein Statsgebiet,
oder ein Theil desſelben von einem andern State in Beſitz genommen und
rechtmäßig einverleibt werden:
a) in Folge der Verzichtleiſtung der bisherigen Statsgewalt auf die
Statsherrſchaft,
b) in Folge der wohlbegründeten Beſeitigung der bisherigen Stats-
gewalt durch die Bevölkerung und des freien Anſchluſſes derſelben
an den erwerbenden Stat,
c) in Folge des nothwendigen Fortſchritts in der Entwicklung eines
nationalen Stats.
In allen dieſen Fällen iſt die Anerkennung der neuen Statsgewalt
durch die politiſch berechtigte Bevölkerung des erworbenen Gebiets eine
Bedingung des rechtmäßigen Erwerbs.
1. Dieſe Anerkennung (vgl. zu § 189) iſt nicht nöthig zu thatſächlicher Un-
terwerfung und Beherrſchung, aber ſie iſt nothwendig, um dem neuen Erwerb den
Stempel des Rechts aufzudrücken. In der Anerkennung wird die dauernde Noth-
wendigkeit d. h. das Recht der veränderten Zuſtände offenbar.
2. Dem ausgeſprochenen Verzicht ſteht das thatſächliche Verlaſſen des beſeſſe-
nen Gebietstheiles gleich.
Als die Römer ihre Beamten und ihre militäriſchen Stationen aus den
Germaniſchen Ländern hinter die Grenzwälle und den Rhein zurückzogen, war das
ein thatſächlicher Verzicht auf ihre Herrſchaft außerhalb dieſer Grenzen. Wenn ein
moderner coloniſirender Stat eine bisher beſetzte Inſel oder Küſtengegend, ohne für
den Statsſchutz zu ſorgen, verläßt, ſo kann ein anderer Stat rechtmäßiger Weiſe ſich
dieſes Gebiets bemächtigen.
3. Wohlbegründet iſt die Beſeitigung der bisherigen Statsherrſchaft, wenn
dieſelbe in einen ernſten und dauernden Widerſpruch gerathen iſt mit dem Recht oder
mit der Wohlfahrt der Bevölkerung, ſo daß die geſicherte Exiſtenz oder die Entwick-
lung derſelben eine Aenderung fordert, oder wenn dieſelbe nothwendig erſcheint, um
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Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/192>, abgerufen am 22.02.2025.
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