Stämmen, so dürfen dieselben nicht willkürlich und gewaltsam von den civilisirten Colonisten verdrängt werden, sondern sind zum Behuf geregelter Ansiedlung von denselben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Ansied- lung und zur Ausbreitung der Cultur darf der colonisirende Stat seine Statshoheit auch über das von Wilden besessene Gebiet erstrecken.
Es ist die Bestimmung der Erdoberfläche, der menschlichen Cultur zu dienen und die Bestimmung der fortschreitenden Menschheit, die Civilisation über die Erde zu verbreiten. Diese Bestimmung ist aber nicht anders zu erfüllen, als indem die civilisirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden Stämme übernehmen. Dazu ist die Ausbreitung der civilisirten Statsautorität noth- wendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grund- eigenthum so wenig als den Stat, aber sie benutzen das Land zu ihren Viehweiden und Jagdgründen. Ein Recht der höher gesitteten Nationen, sie zu vertreiben, läßt sich durch Nichts begründen, so wenig als ein Recht, sie zu tödten und auszurotten. Das natürliche Menschenrecht erkennt voraus die Existenz aller menschlichen Wesen an und schützt das Leben und die erlaubten Genüsse des Wilden so gut, wie das Eigenthum der Civilisirten. Im Mittelalter noch waren die Christen sehr geneigt, alle Nichtchristen als rechtlose Wesen zu betrachten und die Päpste haben freigebig den Königen das Recht zugestanden, alle nichtchristlichen Nationen, selbst wenn diese in Staten lebten, ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Selbst die heutige Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöser Ueberhebung, noch sehr rücksichtslos gegen uncivilisirte Rassen. Das richtige Verhalten ist aber schon ziemlich früh erkannt und auch angewendet worden, besonders von den Puritanern in Neu-England und William Penn in Pennsylvanien, welche den In- dianern den Boden abkauften, den sie urbar machen und zu Grundeigenthum ge- winnen wollten. Wenn erst die rechtliche Möglichkeit der Ansiedlung gewonnen ist und in Folge dessen statliche Menschen da leben können, dann ist auch die Nothwendigkeit klar, daß diese Ansiedlung sowohl des Statsschutzes als der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch der wilden Nachbarn sind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß "der Stat überhaupt seine Herrschaft über die Erde ausdehne", aber nicht zugibt, daß ein bestimmter Stat sich statenlosen Stämmen aufdringen dürfe, so heißt das ein theo- retisches Princip anerkennen, aber seine practische Anwendung verwerfen, denn "der Stat überhaupt" lebt nur in der Gestalt bestimmter Staten. Wenn die deutsche Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden Nachkommen zur Auflösung in fremde Nationen verurtheilen will, so wird auch sie dem Vorbild der civilisirten Westvölker folgen und nicht bloß "in abstracto" denken, sondern ihren Stat "in concreto" colonisirend und civilisirend ausbreiten. Vgl. VattelI. 1. 5. 81. PhillimoreI. 244 f.
281.
Kein Stat ist berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unstatliches
Viertes Buch.
Stämmen, ſo dürfen dieſelben nicht willkürlich und gewaltſam von den civiliſirten Coloniſten verdrängt werden, ſondern ſind zum Behuf geregelter Anſiedlung von denſelben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Anſied- lung und zur Ausbreitung der Cultur darf der coloniſirende Stat ſeine Statshoheit auch über das von Wilden beſeſſene Gebiet erſtrecken.
Es iſt die Beſtimmung der Erdoberfläche, der menſchlichen Cultur zu dienen und die Beſtimmung der fortſchreitenden Menſchheit, die Civiliſation über die Erde zu verbreiten. Dieſe Beſtimmung iſt aber nicht anders zu erfüllen, als indem die civiliſirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden Stämme übernehmen. Dazu iſt die Ausbreitung der civiliſirten Statsautorität noth- wendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grund- eigenthum ſo wenig als den Stat, aber ſie benutzen das Land zu ihren Viehweiden und Jagdgründen. Ein Recht der höher geſitteten Nationen, ſie zu vertreiben, läßt ſich durch Nichts begründen, ſo wenig als ein Recht, ſie zu tödten und auszurotten. Das natürliche Menſchenrecht erkennt voraus die Exiſtenz aller menſchlichen Weſen an und ſchützt das Leben und die erlaubten Genüſſe des Wilden ſo gut, wie das Eigenthum der Civiliſirten. Im Mittelalter noch waren die Chriſten ſehr geneigt, alle Nichtchriſten als rechtloſe Weſen zu betrachten und die Päpſte haben freigebig den Königen das Recht zugeſtanden, alle nichtchriſtlichen Nationen, ſelbſt wenn dieſe in Staten lebten, ihrer Herrſchaft zu unterwerfen. Selbſt die heutige Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöſer Ueberhebung, noch ſehr rückſichtslos gegen unciviliſirte Raſſen. Das richtige Verhalten iſt aber ſchon ziemlich früh erkannt und auch angewendet worden, beſonders von den Puritanern in Neu-England und William Penn in Pennſylvanien, welche den In- dianern den Boden abkauften, den ſie urbar machen und zu Grundeigenthum ge- winnen wollten. Wenn erſt die rechtliche Möglichkeit der Anſiedlung gewonnen iſt und in Folge deſſen ſtatliche Menſchen da leben können, dann iſt auch die Nothwendigkeit klar, daß dieſe Anſiedlung ſowohl des Statsſchutzes als der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch der wilden Nachbarn ſind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß „der Stat überhaupt ſeine Herrſchaft über die Erde ausdehne“, aber nicht zugibt, daß ein beſtimmter Stat ſich ſtatenloſen Stämmen aufdringen dürfe, ſo heißt das ein theo- retiſches Princip anerkennen, aber ſeine practiſche Anwendung verwerfen, denn „der Stat überhaupt“ lebt nur in der Geſtalt beſtimmter Staten. Wenn die deutſche Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden Nachkommen zur Auflöſung in fremde Nationen verurtheilen will, ſo wird auch ſie dem Vorbild der civiliſirten Weſtvölker folgen und nicht bloß „in abstracto“ denken, ſondern ihren Stat „in concreto“ coloniſirend und civiliſirend ausbreiten. Vgl. VattelI. 1. 5. 81. PhillimoreI. 244 f.
281.
Kein Stat iſt berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unſtatliches
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0188"n="166"/><fwplace="top"type="header">Viertes Buch.</fw><lb/>
Stämmen, ſo dürfen dieſelben nicht willkürlich und gewaltſam von den<lb/>
civiliſirten Coloniſten verdrängt werden, ſondern ſind zum Behuf geregelter<lb/>
Anſiedlung von denſelben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Anſied-<lb/>
lung und zur Ausbreitung der Cultur darf der coloniſirende Stat ſeine<lb/>
Statshoheit auch über das von Wilden beſeſſene Gebiet erſtrecken.</p><lb/><p>Es iſt die Beſtimmung der Erdoberfläche, <hirendition="#g">der menſchlichen Cultur zu<lb/>
dienen</hi> und die Beſtimmung der fortſchreitenden Menſchheit, die <hirendition="#g">Civiliſation<lb/>
über die Erde zu verbreiten</hi>. Dieſe Beſtimmung iſt aber nicht anders zu<lb/>
erfüllen, als indem die civiliſirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden<lb/>
Stämme übernehmen. Dazu iſt die Ausbreitung der civiliſirten Statsautorität noth-<lb/>
wendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grund-<lb/>
eigenthum ſo wenig als den Stat, aber ſie benutzen das Land zu ihren Viehweiden<lb/>
und Jagdgründen. Ein Recht der höher geſitteten Nationen, ſie zu vertreiben, läßt<lb/>ſich durch Nichts begründen, ſo wenig als ein Recht, ſie zu tödten und auszurotten.<lb/>
Das natürliche Menſchenrecht erkennt voraus die <hirendition="#g">Exiſtenz aller menſchlichen<lb/>
Weſen</hi> an und ſchützt das Leben und die erlaubten Genüſſe des Wilden ſo gut,<lb/>
wie das Eigenthum der Civiliſirten. Im Mittelalter noch waren die Chriſten ſehr<lb/>
geneigt, alle Nichtchriſten als rechtloſe Weſen zu betrachten und die Päpſte haben<lb/>
freigebig den Königen das Recht zugeſtanden, alle nichtchriſtlichen Nationen, ſelbſt<lb/>
wenn dieſe in Staten lebten, ihrer Herrſchaft zu unterwerfen. Selbſt die heutige<lb/>
Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöſer Ueberhebung, noch ſehr<lb/>
rückſichtslos gegen unciviliſirte Raſſen. Das richtige Verhalten iſt aber ſchon ziemlich<lb/>
früh erkannt und auch angewendet worden, beſonders von den <hirendition="#g">Puritanern</hi> in<lb/><hirendition="#g">Neu-England</hi> und <hirendition="#g">William Penn</hi> in <hirendition="#g">Pennſylvanien</hi>, welche den In-<lb/>
dianern den Boden abkauften, den ſie urbar machen und zu Grundeigenthum ge-<lb/>
winnen wollten. Wenn erſt die <hirendition="#g">rechtliche Möglichkeit der Anſiedlung</hi><lb/>
gewonnen iſt und in Folge deſſen ſtatliche Menſchen da leben können, dann iſt<lb/>
auch die Nothwendigkeit klar, daß dieſe Anſiedlung ſowohl des Statsſchutzes als<lb/>
der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch<lb/>
der wilden Nachbarn ſind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß „der<lb/>
Stat überhaupt ſeine Herrſchaft über die Erde ausdehne“, aber nicht zugibt, daß ein<lb/>
beſtimmter Stat ſich ſtatenloſen Stämmen aufdringen dürfe, ſo heißt das ein theo-<lb/>
retiſches Princip anerkennen, aber ſeine practiſche Anwendung verwerfen, denn „der<lb/>
Stat überhaupt“ lebt nur in der Geſtalt beſtimmter Staten. Wenn die deutſche<lb/>
Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden<lb/>
Nachkommen zur Auflöſung in fremde Nationen verurtheilen will, ſo wird auch ſie<lb/>
dem Vorbild der civiliſirten Weſtvölker folgen und nicht bloß <hirendition="#aq">„in abstracto“</hi> denken,<lb/>ſondern ihren Stat <hirendition="#aq">„in concreto“</hi> coloniſirend und civiliſirend ausbreiten. Vgl.<lb/><hirendition="#g">Vattel</hi><hirendition="#aq">I.</hi> 1. 5. 81. <hirendition="#g">Phillimore</hi><hirendition="#aq">I.</hi> 244 f.</p></div><lb/><divn="4"><head>281.</head><lb/><p>Kein Stat iſt berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unſtatliches<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[166/0188]
Viertes Buch.
Stämmen, ſo dürfen dieſelben nicht willkürlich und gewaltſam von den
civiliſirten Coloniſten verdrängt werden, ſondern ſind zum Behuf geregelter
Anſiedlung von denſelben friedlich abzufinden. Zum Schutze der Anſied-
lung und zur Ausbreitung der Cultur darf der coloniſirende Stat ſeine
Statshoheit auch über das von Wilden beſeſſene Gebiet erſtrecken.
Es iſt die Beſtimmung der Erdoberfläche, der menſchlichen Cultur zu
dienen und die Beſtimmung der fortſchreitenden Menſchheit, die Civiliſation
über die Erde zu verbreiten. Dieſe Beſtimmung iſt aber nicht anders zu
erfüllen, als indem die civiliſirten Nationen die Erziehung und Leitung der wilden
Stämme übernehmen. Dazu iſt die Ausbreitung der civiliſirten Statsautorität noth-
wendig. Die wilden, ohne Stat lebenden Stämme kennen gewöhnlich das Grund-
eigenthum ſo wenig als den Stat, aber ſie benutzen das Land zu ihren Viehweiden
und Jagdgründen. Ein Recht der höher geſitteten Nationen, ſie zu vertreiben, läßt
ſich durch Nichts begründen, ſo wenig als ein Recht, ſie zu tödten und auszurotten.
Das natürliche Menſchenrecht erkennt voraus die Exiſtenz aller menſchlichen
Weſen an und ſchützt das Leben und die erlaubten Genüſſe des Wilden ſo gut,
wie das Eigenthum der Civiliſirten. Im Mittelalter noch waren die Chriſten ſehr
geneigt, alle Nichtchriſten als rechtloſe Weſen zu betrachten und die Päpſte haben
freigebig den Königen das Recht zugeſtanden, alle nichtchriſtlichen Nationen, ſelbſt
wenn dieſe in Staten lebten, ihrer Herrſchaft zu unterwerfen. Selbſt die heutige
Praxis verfährt gelegentlich, freilich nicht mehr aus religiöſer Ueberhebung, noch ſehr
rückſichtslos gegen unciviliſirte Raſſen. Das richtige Verhalten iſt aber ſchon ziemlich
früh erkannt und auch angewendet worden, beſonders von den Puritanern in
Neu-England und William Penn in Pennſylvanien, welche den In-
dianern den Boden abkauften, den ſie urbar machen und zu Grundeigenthum ge-
winnen wollten. Wenn erſt die rechtliche Möglichkeit der Anſiedlung
gewonnen iſt und in Folge deſſen ſtatliche Menſchen da leben können, dann iſt
auch die Nothwendigkeit klar, daß dieſe Anſiedlung ſowohl des Statsſchutzes als
der Sicherung des Grundeigenthums bedarf und die Wege zur Erziehung auch
der wilden Nachbarn ſind eröffnet. Wenn Heffter (§ 70) zwar anerkennt, daß „der
Stat überhaupt ſeine Herrſchaft über die Erde ausdehne“, aber nicht zugibt, daß ein
beſtimmter Stat ſich ſtatenloſen Stämmen aufdringen dürfe, ſo heißt das ein theo-
retiſches Princip anerkennen, aber ſeine practiſche Anwendung verwerfen, denn „der
Stat überhaupt“ lebt nur in der Geſtalt beſtimmter Staten. Wenn die deutſche
Nation ihren Culturberuf erfüllen und nicht immer wie bisher ihre auswandernden
Nachkommen zur Auflöſung in fremde Nationen verurtheilen will, ſo wird auch ſie
dem Vorbild der civiliſirten Weſtvölker folgen und nicht bloß „in abstracto“ denken,
ſondern ihren Stat „in concreto“ coloniſirend und civiliſirend ausbreiten. Vgl.
Vattel I. 1. 5. 81. Phillimore I. 244 f.
281.
Kein Stat iſt berechtigt, ein größeres unbewohntes oder unſtatliches
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/188>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.