Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen sichereren Maßstab der Theilung als die Volkszahl, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die städtische vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und durch höhere Bedürfnisse hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verständliche Lösung zu finden, muß man zu den einfachsten und ursprünglichsten Elementen des States zurückgehen und das sind doch die Menschen, die er einigt.
59.
Die Statsschulden sind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, sondern wenn sie hypothesirt oder fundirt sind, im Anschluß an die verpfändeten Liegenschaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der Steuerleistungen zu vertheilen.
1. Indem der Stat seine Anleihen hypothesirt oder fundirt, bringt er diesel- ben in einen nähern Zusammenhang mit andern Gütern, und dieser Zusam- menhang wirkt fort, obwohl der Stat sich auflöst. Die Gläubiger halten sich daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgestat in eine neue Beziehung, welchem diese Güter zugefallen sind. Eine Scheidung der persönlichen Schuld und der dinglichen Sicherung ist hier nicht ebenso statthaft wie im Privatrecht.
2. Die Sicherheit der übrigen Statsschulden beruht auf der Steuerkraft der Statsgenossen und diese wird bemessen nach der wirklichen Steuer- leistung. Diese gibt daher einen gerechteren Maßstab als die Volkszahl. Man denke sich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöst, von denen der eine eine reiche Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer Vertheilung der Statsschulden nach der Volkszahl der eine Stat überlastet, er könnte die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen Steuerleistung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.
60.
Geht ein Stat durch Aussterben oder Zerstreuung oder Aus- wanderung seines Volkes auch in der Volks- oder Landessubstanz unter, dann erlöschen mit seiner Persönlichkeit auch seine Rechte und Verpflich- tungen.
Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Palästina besetzten, ward der neue jüdische Stat in keiner Weise Rechtsnachfolger der daselbst unter- gegangenen Staten. Ebenso als die Germanischen Völker zur Zeit der Völkerwan- derung ihre alten Wohnsitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die nachrückenden germanischen oder slavischen Völker traten ebenso wenig als ihre Rechts- nachfolger an ihre Stelle als das römisch-byzantinische Reich, welches jene aufnahm, deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.
Zweites Buch.
Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen ſichereren Maßſtab der Theilung als die Volkszahl, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die ſtädtiſche vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und durch höhere Bedürfniſſe hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verſtändliche Löſung zu finden, muß man zu den einfachſten und urſprünglichſten Elementen des States zurückgehen und das ſind doch die Menſchen, die er einigt.
59.
Die Statsſchulden ſind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, ſondern wenn ſie hypotheſirt oder fundirt ſind, im Anſchluß an die verpfändeten Liegenſchaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der Steuerleiſtungen zu vertheilen.
1. Indem der Stat ſeine Anleihen hypotheſirt oder fundirt, bringt er dieſel- ben in einen nähern Zuſammenhang mit andern Gütern, und dieſer Zuſam- menhang wirkt fort, obwohl der Stat ſich auflöſt. Die Gläubiger halten ſich daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgeſtat in eine neue Beziehung, welchem dieſe Güter zugefallen ſind. Eine Scheidung der perſönlichen Schuld und der dinglichen Sicherung iſt hier nicht ebenſo ſtatthaft wie im Privatrecht.
2. Die Sicherheit der übrigen Statsſchulden beruht auf der Steuerkraft der Statsgenoſſen und dieſe wird bemeſſen nach der wirklichen Steuer- leiſtung. Dieſe gibt daher einen gerechteren Maßſtab als die Volkszahl. Man denke ſich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöſt, von denen der eine eine reiche Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer Vertheilung der Statsſchulden nach der Volkszahl der eine Stat überlaſtet, er könnte die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen Steuerleiſtung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.
60.
Geht ein Stat durch Ausſterben oder Zerſtreuung oder Aus- wanderung ſeines Volkes auch in der Volks- oder Landesſubſtanz unter, dann erlöſchen mit ſeiner Perſönlichkeit auch ſeine Rechte und Verpflich- tungen.
Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Paläſtina beſetzten, ward der neue jüdiſche Stat in keiner Weiſe Rechtsnachfolger der daſelbſt unter- gegangenen Staten. Ebenſo als die Germaniſchen Völker zur Zeit der Völkerwan- derung ihre alten Wohnſitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die nachrückenden germaniſchen oder ſlaviſchen Völker traten ebenſo wenig als ihre Rechts- nachfolger an ihre Stelle als das römiſch-byzantiniſche Reich, welches jene aufnahm, deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><pbfacs="#f0104"n="82"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch.</fw><lb/><p>Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen ſichereren Maßſtab<lb/>
der Theilung als die <hirendition="#g">Volkszahl</hi>, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die<lb/>ſtädtiſche vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und<lb/>
durch höhere Bedürfniſſe hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verſtändliche<lb/>
Löſung zu finden, muß man zu den einfachſten und urſprünglichſten Elementen des<lb/>
States zurückgehen und das ſind doch die Menſchen, die er einigt.</p></div><lb/><divn="5"><head>59.</head><lb/><p>Die Statsſchulden ſind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, ſondern<lb/>
wenn ſie hypotheſirt oder fundirt ſind, im Anſchluß an die verpfändeten<lb/>
Liegenſchaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der<lb/>
Steuerleiſtungen zu vertheilen.</p><lb/><p>1. Indem der Stat ſeine Anleihen hypotheſirt oder fundirt, bringt er dieſel-<lb/>
ben in einen nähern Zuſammenhang mit andern Gütern, und <hirendition="#g">dieſer Zuſam-<lb/>
menhang wirkt fort</hi>, obwohl der Stat ſich auflöſt. Die Gläubiger halten ſich<lb/>
daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgeſtat in eine neue Beziehung,<lb/>
welchem dieſe Güter zugefallen ſind. Eine Scheidung der perſönlichen Schuld und<lb/>
der dinglichen Sicherung iſt hier nicht ebenſo ſtatthaft wie im Privatrecht.</p><lb/><p>2. Die Sicherheit der übrigen Statsſchulden beruht auf der <hirendition="#g">Steuerkraft<lb/>
der Statsgenoſſen</hi> und dieſe wird bemeſſen nach der <hirendition="#g">wirklichen Steuer-<lb/>
leiſtung</hi>. Dieſe gibt daher einen gerechteren Maßſtab als die Volkszahl. Man<lb/>
denke ſich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöſt, von denen der eine eine reiche<lb/>
Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer<lb/>
Vertheilung der Statsſchulden nach der Volkszahl der eine Stat überlaſtet, er könnte<lb/>
die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen<lb/>
Steuerleiſtung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.</p></div><lb/><divn="5"><head>60.</head><lb/><p>Geht ein Stat durch Ausſterben oder Zerſtreuung oder Aus-<lb/>
wanderung ſeines Volkes auch in der Volks- oder Landesſubſtanz unter,<lb/>
dann erlöſchen mit ſeiner Perſönlichkeit auch ſeine Rechte und Verpflich-<lb/>
tungen.</p><lb/><p>Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Paläſtina beſetzten,<lb/>
ward der neue jüdiſche Stat in keiner Weiſe Rechtsnachfolger der daſelbſt unter-<lb/>
gegangenen Staten. Ebenſo als die Germaniſchen Völker zur Zeit der Völkerwan-<lb/>
derung ihre alten Wohnſitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die<lb/>
nachrückenden germaniſchen oder ſlaviſchen Völker traten ebenſo wenig als ihre Rechts-<lb/>
nachfolger an ihre Stelle als das römiſch-byzantiniſche Reich, welches jene aufnahm,<lb/>
deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.</p></div><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[82/0104]
Zweites Buch.
Es gibt kein natürlicheres Theilungsverhältniß, und keinen ſichereren Maßſtab
der Theilung als die Volkszahl, obwohl vielleicht die eine Bevölkerung z. B. die
ſtädtiſche vor der anderen z. B. der bloß ländlichen durch Vermögen, Bildung und
durch höhere Bedürfniſſe hervorragt. Um eine gerechte und allgemein verſtändliche
Löſung zu finden, muß man zu den einfachſten und urſprünglichſten Elementen des
States zurückgehen und das ſind doch die Menſchen, die er einigt.
59.
Die Statsſchulden ſind nicht nach Verhältniß der Volkszahl, ſondern
wenn ſie hypotheſirt oder fundirt ſind, im Anſchluß an die verpfändeten
Liegenſchaften oder das Fundirungsgut, im übrigen nach Verhältniß der
Steuerleiſtungen zu vertheilen.
1. Indem der Stat ſeine Anleihen hypotheſirt oder fundirt, bringt er dieſel-
ben in einen nähern Zuſammenhang mit andern Gütern, und dieſer Zuſam-
menhang wirkt fort, obwohl der Stat ſich auflöſt. Die Gläubiger halten ſich
daran und kommen eben deßhalb nur mit dem Folgeſtat in eine neue Beziehung,
welchem dieſe Güter zugefallen ſind. Eine Scheidung der perſönlichen Schuld und
der dinglichen Sicherung iſt hier nicht ebenſo ſtatthaft wie im Privatrecht.
2. Die Sicherheit der übrigen Statsſchulden beruht auf der Steuerkraft
der Statsgenoſſen und dieſe wird bemeſſen nach der wirklichen Steuer-
leiſtung. Dieſe gibt daher einen gerechteren Maßſtab als die Volkszahl. Man
denke ſich z. B. einen Stat in zwei Staten aufgelöſt, von denen der eine eine reiche
Städtebevölkerung, der andere eine arme Landbevölkerung hat. Da würde bei einer
Vertheilung der Statsſchulden nach der Volkszahl der eine Stat überlaſtet, er könnte
die Schuld nicht tragen, und der andere Stat unverhältnißmäßig in der bisherigen
Steuerleiſtung erleichtert, zum Schaden der Gläubiger.
60.
Geht ein Stat durch Ausſterben oder Zerſtreuung oder Aus-
wanderung ſeines Volkes auch in der Volks- oder Landesſubſtanz unter,
dann erlöſchen mit ſeiner Perſönlichkeit auch ſeine Rechte und Verpflich-
tungen.
Als die Juden mit Vertilgung der fremden Einwohner Paläſtina beſetzten,
ward der neue jüdiſche Stat in keiner Weiſe Rechtsnachfolger der daſelbſt unter-
gegangenen Staten. Ebenſo als die Germaniſchen Völker zur Zeit der Völkerwan-
derung ihre alten Wohnſitze verließen, gingen auch ihre alten Staten unter und die
nachrückenden germaniſchen oder ſlaviſchen Völker traten ebenſo wenig als ihre Rechts-
nachfolger an ihre Stelle als das römiſch-byzantiniſche Reich, welches jene aufnahm,
deßhalb zum Rechtsnachfolger ihrer untergegangenen Staten ward.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten. Nördlingen, 1868, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_voelkerrecht_1868/104>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.