Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
zog doch auch die speculative Philosophie aus den neuen Forschungen Gewinn.
Sogar Hegel nahm in seiner Rechtslehre mehr Rück- sicht auf die geschichtliche Statenbildung, als es die früheren Naturrechtslehrer gethan hatten. Freilich vermeinte er in der Weltgeschichte einen dialektischen Procesz der Vernunftthätig- keit zu begreifen. Das "Bestehende" erschien ihm ver- nünftig. Seine Lehre verherrlichte vorzüglich den damaligen preuszischen Stat, der noch absolut, wenn gleich im Gefühl der öffentlichen Pflichten regiert wurde. Sie vertheidigte die monarchische Machtfülle und wirkte nicht förderlich für die constitutionelle Freiheit. Aber mit Nachdruck hob er wieder die sittliche Bedeutung des States hervor und pries den Stat, im Gegensatze zu den jämmerlichen Vorstellungen, dasz er ein nothwendiges Uebel sei, als die höchste und herrlichste Verwirklichung der Rechtsidee.
Der Hegelsche Stat ist jedoch nur eine logische Abstrac- tion, kein lebendiger Organismus, ein bloszer logischer Ge- danke, keine Person. 12 Indem Hegel den Stat wie das Recht lediglich auf den Willen gründet, übersieht er, dasz im State nicht blosz der menschliche Gesammtwille thätig ist, sondern alle menschlichen Geistes- und Gemüthskräfte zusammen wirken.
Fr. J. Stahl, der nach Hegel der bedeutendste Vertreter der philosophischen Statslehre in Berlin war, bekämpfte die naturrechtliche Schule und die Hegelsche Lehre mit Eifer und Geschick. Er unternahm es die geschichtliche Richtung mit der phantasiereichen Speculation Schellings zu ver- mählen.
In vielen Beziehungen hat Stahl durch seine dialektische
12Hegel, Rechtsphilosophie §. 57: "Der Stat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deut- liche substantielle Wille, der sich denkt und weisz, und das was er weisz und insofern er es weisz, vollführt." Vgl. Werke IX. §. 44.
Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
zog doch auch die speculative Philosophie aus den neuen Forschungen Gewinn.
Sogar Hegel nahm in seiner Rechtslehre mehr Rück- sicht auf die geschichtliche Statenbildung, als es die früheren Naturrechtslehrer gethan hatten. Freilich vermeinte er in der Weltgeschichte einen dialektischen Procesz der Vernunftthätig- keit zu begreifen. Das „Bestehende“ erschien ihm ver- nünftig. Seine Lehre verherrlichte vorzüglich den damaligen preuszischen Stat, der noch absolut, wenn gleich im Gefühl der öffentlichen Pflichten regiert wurde. Sie vertheidigte die monarchische Machtfülle und wirkte nicht förderlich für die constitutionelle Freiheit. Aber mit Nachdruck hob er wieder die sittliche Bedeutung des States hervor und pries den Stat, im Gegensatze zu den jämmerlichen Vorstellungen, dasz er ein nothwendiges Uebel sei, als die höchste und herrlichste Verwirklichung der Rechtsidee.
Der Hegelsche Stat ist jedoch nur eine logische Abstrac- tion, kein lebendiger Organismus, ein bloszer logischer Ge- danke, keine Person. 12 Indem Hegel den Stat wie das Recht lediglich auf den Willen gründet, übersieht er, dasz im State nicht blosz der menschliche Gesammtwille thätig ist, sondern alle menschlichen Geistes- und Gemüthskräfte zusammen wirken.
Fr. J. Stahl, der nach Hegel der bedeutendste Vertreter der philosophischen Statslehre in Berlin war, bekämpfte die naturrechtliche Schule und die Hegelsche Lehre mit Eifer und Geschick. Er unternahm es die geschichtliche Richtung mit der phantasiereichen Speculation Schellings zu ver- mählen.
In vielen Beziehungen hat Stahl durch seine dialektische
12Hegel, Rechtsphilosophie §. 57: „Der Stat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deut- liche substantielle Wille, der sich denkt und weisz, und das was er weisz und insofern er es weisz, vollführt.“ Vgl. Werke IX. §. 44.
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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
zog doch auch die speculative Philosophie aus den neuen
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Sogar Hegel nahm in seiner Rechtslehre mehr Rück-
sicht auf die geschichtliche Statenbildung, als es die früheren
Naturrechtslehrer gethan hatten. Freilich vermeinte er in der
Weltgeschichte einen dialektischen Procesz der Vernunftthätig-
keit zu begreifen. Das „Bestehende“ erschien ihm ver-
nünftig. Seine Lehre verherrlichte vorzüglich den damaligen
preuszischen Stat, der noch absolut, wenn gleich im Gefühl
der öffentlichen Pflichten regiert wurde. Sie vertheidigte die
monarchische Machtfülle und wirkte nicht förderlich für die
constitutionelle Freiheit. Aber mit Nachdruck hob er wieder
die sittliche Bedeutung des States hervor und pries den
Stat, im Gegensatze zu den jämmerlichen Vorstellungen, dasz
er ein nothwendiges Uebel sei, als die höchste und herrlichste
Verwirklichung der Rechtsidee.
Der Hegelsche Stat ist jedoch nur eine logische Abstrac-
tion, kein lebendiger Organismus, ein bloszer logischer Ge-
danke, keine Person. 12 Indem Hegel den Stat wie das Recht
lediglich auf den Willen gründet, übersieht er, dasz im State
nicht blosz der menschliche Gesammtwille thätig ist, sondern
alle menschlichen Geistes- und Gemüthskräfte zusammen
wirken.
Fr. J. Stahl, der nach Hegel der bedeutendste Vertreter
der philosophischen Statslehre in Berlin war, bekämpfte die
naturrechtliche Schule und die Hegelsche Lehre mit Eifer
und Geschick. Er unternahm es die geschichtliche Richtung
mit der phantasiereichen Speculation Schellings zu ver-
mählen.
In vielen Beziehungen hat Stahl durch seine dialektische
12 Hegel, Rechtsphilosophie §. 57: „Der Stat ist die Wirklichkeit
der sittlichen Idee, der sittliche Geist als der offenbare, sich selbst deut-
liche substantielle Wille, der sich denkt und weisz, und das was er
weisz und insofern er es weisz, vollführt.“ Vgl. Werke IX. §. 44.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/97>, abgerufen am 27.11.2024.
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