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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
entsprechend vornehmlich zwei Statswissenschaften gibt, Stats-
recht und Politik, so gibt es auch zwei grosze Stats-
principien
, welche wie zwei leuchtende Gestirne das Leben
des States erhellen und befruchten, welche beide die Form
und den Inhalt des States bedingen: die Gerechtigkeit
(justitia) und die öffentliche Wohlfahrt (salus publica).
Statsmänner werden vorzugsweise die letztere, Juristen eher
die erste vor Augen haben. Die Idee des Rechts bestimmt
vorzugsweise das Statsrecht. Die Idee der Wohlfahrt leitet
vornehmlich die Politik.

Die Sorge der Regierung wird sich mehr noch auf die
öffentliche Wohlfahrt, obwohl innerhalb der Schranken des
Rechtes beziehen, wie denn auch die statlich fortgeschrittenen
Römer gerade den höchsten Magistraten die Sorge für die
öffentliche Wohlfahrt als ihre oberste Pflicht ans Herz gelegt
haben; 8 die Thätigkeit der Gerichte wird sich auf die Auf-
rechthaltung der Rechtsordnung beschränken. Der Stat selbst
aber bedarf zu seiner Existenz und zu seinem Gedeihen der
steten Rücksicht sowohl auf die öffentliche Wohlfahrt als auf
das Recht. Gerade der moderne Stat aber achtet in höherem
Masze, als der mittelalterliche auf die Bedürfnisse des ge-
meinen Wohles, und kann daher weniger als der letztere zu
einem bloszen "Rechtsstate" werden.

5. Historische Schule. Organische Statslehre.
Ein Verdienst der historischen Schule ist es, den organi-
schen
Charakter des States von neuem ins Bewusztsein ge-
bracht zu haben. Einzelne grosze Statsmänner hatten zwar
ein lebendiges Verständnisz des organischen States bewahrt.
Friedrich der Grosze von Preuszen z. B. sprach in seinem
Antimachiavell (c. 9.) es deutlich aus: "Wie die Menschen
geboren werden, dann eine Zeit lang leben, endlich aus
Krankheit oder Alter sterben, so bilden sich auch die Staten,

8 Cicero, de Legibus III. c. 3. von den Consuln: "Ollis Salus Populi
Suprema Lex Esto."

Erstes Buch. Der Statsbegriff.
entsprechend vornehmlich zwei Statswissenschaften gibt, Stats-
recht und Politik, so gibt es auch zwei grosze Stats-
principien
, welche wie zwei leuchtende Gestirne das Leben
des States erhellen und befruchten, welche beide die Form
und den Inhalt des States bedingen: die Gerechtigkeit
(justitia) und die öffentliche Wohlfahrt (salus publica).
Statsmänner werden vorzugsweise die letztere, Juristen eher
die erste vor Augen haben. Die Idee des Rechts bestimmt
vorzugsweise das Statsrecht. Die Idee der Wohlfahrt leitet
vornehmlich die Politik.

Die Sorge der Regierung wird sich mehr noch auf die
öffentliche Wohlfahrt, obwohl innerhalb der Schranken des
Rechtes beziehen, wie denn auch die statlich fortgeschrittenen
Römer gerade den höchsten Magistraten die Sorge für die
öffentliche Wohlfahrt als ihre oberste Pflicht ans Herz gelegt
haben; 8 die Thätigkeit der Gerichte wird sich auf die Auf-
rechthaltung der Rechtsordnung beschränken. Der Stat selbst
aber bedarf zu seiner Existenz und zu seinem Gedeihen der
steten Rücksicht sowohl auf die öffentliche Wohlfahrt als auf
das Recht. Gerade der moderne Stat aber achtet in höherem
Masze, als der mittelalterliche auf die Bedürfnisse des ge-
meinen Wohles, und kann daher weniger als der letztere zu
einem bloszen „Rechtsstate“ werden.

5. Historische Schule. Organische Statslehre.
Ein Verdienst der historischen Schule ist es, den organi-
schen
Charakter des States von neuem ins Bewusztsein ge-
bracht zu haben. Einzelne grosze Statsmänner hatten zwar
ein lebendiges Verständnisz des organischen States bewahrt.
Friedrich der Grosze von Preuszen z. B. sprach in seinem
Antimachiavell (c. 9.) es deutlich aus: „Wie die Menschen
geboren werden, dann eine Zeit lang leben, endlich aus
Krankheit oder Alter sterben, so bilden sich auch die Staten,

8 Cicero, de Legibus III. c. 3. von den Consuln: „Ollis Salus Populi
Suprema Lex Esto.“
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[76/0094] Erstes Buch. Der Statsbegriff. entsprechend vornehmlich zwei Statswissenschaften gibt, Stats- recht und Politik, so gibt es auch zwei grosze Stats- principien, welche wie zwei leuchtende Gestirne das Leben des States erhellen und befruchten, welche beide die Form und den Inhalt des States bedingen: die Gerechtigkeit (justitia) und die öffentliche Wohlfahrt (salus publica). Statsmänner werden vorzugsweise die letztere, Juristen eher die erste vor Augen haben. Die Idee des Rechts bestimmt vorzugsweise das Statsrecht. Die Idee der Wohlfahrt leitet vornehmlich die Politik. Die Sorge der Regierung wird sich mehr noch auf die öffentliche Wohlfahrt, obwohl innerhalb der Schranken des Rechtes beziehen, wie denn auch die statlich fortgeschrittenen Römer gerade den höchsten Magistraten die Sorge für die öffentliche Wohlfahrt als ihre oberste Pflicht ans Herz gelegt haben; 8 die Thätigkeit der Gerichte wird sich auf die Auf- rechthaltung der Rechtsordnung beschränken. Der Stat selbst aber bedarf zu seiner Existenz und zu seinem Gedeihen der steten Rücksicht sowohl auf die öffentliche Wohlfahrt als auf das Recht. Gerade der moderne Stat aber achtet in höherem Masze, als der mittelalterliche auf die Bedürfnisse des ge- meinen Wohles, und kann daher weniger als der letztere zu einem bloszen „Rechtsstate“ werden. 5. Historische Schule. Organische Statslehre. Ein Verdienst der historischen Schule ist es, den organi- schen Charakter des States von neuem ins Bewusztsein ge- bracht zu haben. Einzelne grosze Statsmänner hatten zwar ein lebendiges Verständnisz des organischen States bewahrt. Friedrich der Grosze von Preuszen z. B. sprach in seinem Antimachiavell (c. 9.) es deutlich aus: „Wie die Menschen geboren werden, dann eine Zeit lang leben, endlich aus Krankheit oder Alter sterben, so bilden sich auch die Staten, 8 Cicero, de Legibus III. c. 3. von den Consuln: „Ollis Salus Populi Suprema Lex Esto.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/94>, abgerufen am 27.11.2024.