Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
2) die Meinung, dasz der Stat die Rechte der Ge- meinschaft zu ordnen und zugleich für Anerkennung der individuellen Rechte zu sorgen habe, so ist das zwar ganz richtig, aber durchaus ungenügend, indem gerade die fruchtbarste Thätigkeit des Statsmannes, die Sorge für die materielle Wohlfahrt und für die geistige Erhebung des Volks, übersehen wird;
3) oder dasz der Stat zwar wohl dem Inhalte nach auch die öffentliche Wohlfahrt befördern, aber der Form nach doch nur insofern Zwang üben dürfe, als eine rechtliche Noth- wendigkeit diesen begründe, so ist gegen diesen Gedanken zwar schwerlich etwas einzuwenden, aber zugleich wiederum klar, dasz damit nur eine Seite der statlichen Thätigkeit näher bestimmt, die Aeuszerung der statlichen Sorge aber, z. B. für Nahrungs-, Verkehrs- und Culturbedürfnisse, welche sich inner- halb jener rechtlichen Schranken frei bewegt und keines- wegs der Form des Zwanges bedarf, nicht begriffen wird.
Versteht man unter dem Wort Rechtsstat
4) die Verneinung der religiösen Begründung des Stats und die Behauptung seiner menschlichen Grundlage und Be- schränkung, oder
5) die Bekämpfung jeder absoluten Statsgewalt und auch des Patrimonialstats, der sich mit der Polizeiwill- kür ganz trefflich abzufinden gewuszt hat, und die Behauptung, dasz den Statsbürgern ein Antheil gebühre an den öffentlichen Rechten;
so werden zwar damit charakteristische Merkmale des modernen Stats gemeint, aber der Ausdruck ist sehr unglück- lich gewählt, um diese Gedanken anzudeuten. Besser wird er Verfassungstat genannt.
Wie es zwei Seiten gibt des statlichen Wesens, Ruhe und Bewegung, Bestand und Entwicklung, Körper und Geist, und wie es diesem innern organisch verbundenen Gegensatz
Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
2) die Meinung, dasz der Stat die Rechte der Ge- meinschaft zu ordnen und zugleich für Anerkennung der individuellen Rechte zu sorgen habe, so ist das zwar ganz richtig, aber durchaus ungenügend, indem gerade die fruchtbarste Thätigkeit des Statsmannes, die Sorge für die materielle Wohlfahrt und für die geistige Erhebung des Volks, übersehen wird;
3) oder dasz der Stat zwar wohl dem Inhalte nach auch die öffentliche Wohlfahrt befördern, aber der Form nach doch nur insofern Zwang üben dürfe, als eine rechtliche Noth- wendigkeit diesen begründe, so ist gegen diesen Gedanken zwar schwerlich etwas einzuwenden, aber zugleich wiederum klar, dasz damit nur eine Seite der statlichen Thätigkeit näher bestimmt, die Aeuszerung der statlichen Sorge aber, z. B. für Nahrungs-, Verkehrs- und Culturbedürfnisse, welche sich inner- halb jener rechtlichen Schranken frei bewegt und keines- wegs der Form des Zwanges bedarf, nicht begriffen wird.
Versteht man unter dem Wort Rechtsstat
4) die Verneinung der religiösen Begründung des Stats und die Behauptung seiner menschlichen Grundlage und Be- schränkung, oder
5) die Bekämpfung jeder absoluten Statsgewalt und auch des Patrimonialstats, der sich mit der Polizeiwill- kür ganz trefflich abzufinden gewuszt hat, und die Behauptung, dasz den Statsbürgern ein Antheil gebühre an den öffentlichen Rechten;
so werden zwar damit charakteristische Merkmale des modernen Stats gemeint, aber der Ausdruck ist sehr unglück- lich gewählt, um diese Gedanken anzudeuten. Besser wird er Verfassungstat genannt.
Wie es zwei Seiten gibt des statlichen Wesens, Ruhe und Bewegung, Bestand und Entwicklung, Körper und Geist, und wie es diesem innern organisch verbundenen Gegensatz
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Siebentes Capitel. Die Entwicklung und die Gegensätze der Statslehre.
2) die Meinung, dasz der Stat die Rechte der Ge-
meinschaft zu ordnen und zugleich für Anerkennung der
individuellen Rechte zu sorgen habe, so ist das zwar
ganz richtig, aber durchaus ungenügend, indem gerade die
fruchtbarste Thätigkeit des Statsmannes, die Sorge für die
materielle Wohlfahrt und für die geistige Erhebung des Volks,
übersehen wird;
3) oder dasz der Stat zwar wohl dem Inhalte nach auch
die öffentliche Wohlfahrt befördern, aber der Form nach doch
nur insofern Zwang üben dürfe, als eine rechtliche Noth-
wendigkeit diesen begründe, so ist gegen diesen Gedanken
zwar schwerlich etwas einzuwenden, aber zugleich wiederum
klar, dasz damit nur eine Seite der statlichen Thätigkeit näher
bestimmt, die Aeuszerung der statlichen Sorge aber, z. B. für
Nahrungs-, Verkehrs- und Culturbedürfnisse, welche sich inner-
halb jener rechtlichen Schranken frei bewegt und keines-
wegs der Form des Zwanges bedarf, nicht begriffen
wird.
Versteht man unter dem Wort Rechtsstat
4) die Verneinung der religiösen Begründung des Stats
und die Behauptung seiner menschlichen Grundlage und Be-
schränkung, oder
5) die Bekämpfung jeder absoluten Statsgewalt und
auch des Patrimonialstats, der sich mit der Polizeiwill-
kür ganz trefflich abzufinden gewuszt hat, und die Behauptung,
dasz den Statsbürgern ein Antheil gebühre an den öffentlichen
Rechten;
so werden zwar damit charakteristische Merkmale des
modernen Stats gemeint, aber der Ausdruck ist sehr unglück-
lich gewählt, um diese Gedanken anzudeuten. Besser wird er
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/93>, abgerufen am 27.11.2024.
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