Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Erstes Buch. Der Statsbegriff.

[Spaltenumbruch]

Antiker Stat.

den Widerstand andrer Sta-
ten, thatsächlich aber nicht
durch das gemeinsame Völ-
kerrecht
beschränkt. Rom
strebte rücksichtslos die Welt-
herrschaft
an wie sein na-
türliches Vorrecht.


[Spaltenumbruch]

Moderner Stat.

eine rechtliche Schranke ihrer
Herrschaft an. Das Völker-
recht schützt den Bestand und
die Freiheit aller Völker und
Staten und verwirft die Uni-
versalherrschaft
Eines
States über alle Nationen.

Die Hauptunterschiede der modernen Statenbildung und
der mittelalterlichen sind:


[Spaltenumbruch]

Mittelalterlicher Stat.

1. Das Mittelalter leitet den
Stat und die Statsgewalt von
Gott
ab. Der Stat ist eine
von Gott gewollte und ge-
schaffene Ordnung.

2. Die theologischen
Principien sind grundlegend
und maszgebend für den Stats-
begriff. Der ganz und gar
mittelalterliche Islam kennt
nur Ein Gottesreich, wel-
ches von Gott dem Sultan zur
Herrschaft verliehen ist. Das
christliche Mittelalter will den
Dualismus von Kirche und
Stat, aber es glaubt, dasz
beide Schwerter, das
geistliche und das weltliche,
von Gott verliehen werden,
das erste an den Papst, das
zweite an den Kaiser. Die


[Spaltenumbruch]

Moderner Stat.

1. Der moderne Stat wird aus
der Menschennatur mensch-
lich
begründet. Der Stat ist
eine von den Menschen zu
menschlichen Zwecken ge-
schaffene und verwaltete ge-
meinsame Lebensordnung.

2. Die weltlichen Wissen-
schaften der Philosophie
und Geschichte bestimmen
die Grundprincipien des Stats.
Die moderne Statswissenschaft
geht von der Betrachtung des
Menschen aus, wenn sie den
Stat erklärt. Die einen den-
ken sich den Stat als eine
Gesellschaft von Einzel-
menschen, welche zum Schutz
ihrer Sicherheit und ihrer
Freiheit sich vereinbaren, die
andern als eine Verkörperung
des Volks in seiner Einheit.

Die moderne Statsidee ist


Erstes Buch. Der Statsbegriff.

[Spaltenumbruch]

Antiker Stat.

den Widerstand andrer Sta-
ten, thatsächlich aber nicht
durch das gemeinsame Völ-
kerrecht
beschränkt. Rom
strebte rücksichtslos die Welt-
herrschaft
an wie sein na-
türliches Vorrecht.


[Spaltenumbruch]

Moderner Stat.

eine rechtliche Schranke ihrer
Herrschaft an. Das Völker-
recht schützt den Bestand und
die Freiheit aller Völker und
Staten und verwirft die Uni-
versalherrschaft
Eines
States über alle Nationen.

Die Hauptunterschiede der modernen Statenbildung und
der mittelalterlichen sind:


[Spaltenumbruch]

Mittelalterlicher Stat.

1. Das Mittelalter leitet den
Stat und die Statsgewalt von
Gott
ab. Der Stat ist eine
von Gott gewollte und ge-
schaffene Ordnung.

2. Die theologischen
Principien sind grundlegend
und maszgebend für den Stats-
begriff. Der ganz und gar
mittelalterliche Islam kennt
nur Ein Gottesreich, wel-
ches von Gott dem Sultan zur
Herrschaft verliehen ist. Das
christliche Mittelalter will den
Dualismus von Kirche und
Stat, aber es glaubt, dasz
beide Schwerter, das
geistliche und das weltliche,
von Gott verliehen werden,
das erste an den Papst, das
zweite an den Kaiser. Die


[Spaltenumbruch]

Moderner Stat.

1. Der moderne Stat wird aus
der Menschennatur mensch-
lich
begründet. Der Stat ist
eine von den Menschen zu
menschlichen Zwecken ge-
schaffene und verwaltete ge-
meinsame Lebensordnung.

2. Die weltlichen Wissen-
schaften der Philosophie
und Geschichte bestimmen
die Grundprincipien des Stats.
Die moderne Statswissenschaft
geht von der Betrachtung des
Menschen aus, wenn sie den
Stat erklärt. Die einen den-
ken sich den Stat als eine
Gesellschaft von Einzel-
menschen, welche zum Schutz
ihrer Sicherheit und ihrer
Freiheit sich vereinbaren, die
andern als eine Verkörperung
des Volks in seiner Einheit.

Die moderne Statsidee ist


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0082" n="64"/>
          <fw place="top" type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/>
          <cb/>
          <p><hi rendition="#g">Antiker Stat</hi>.</p><lb/>
          <p>den Widerstand andrer Sta-<lb/>
ten, thatsächlich aber nicht<lb/>
durch das gemeinsame <hi rendition="#g">Völ-<lb/>
kerrecht</hi> beschränkt. Rom<lb/>
strebte rücksichtslos die <hi rendition="#g">Welt-<lb/>
herrschaft</hi> an wie sein na-<lb/>
türliches Vorrecht.</p><lb/>
          <cb/>
          <p><hi rendition="#g">Moderner Stat</hi>.</p><lb/>
          <p>eine rechtliche Schranke ihrer<lb/>
Herrschaft an. Das Völker-<lb/>
recht schützt den Bestand und<lb/>
die Freiheit aller Völker und<lb/>
Staten und verwirft die <hi rendition="#g">Uni-<lb/>
versalherrschaft</hi> Eines<lb/>
States über alle Nationen.</p><lb/>
          <p>Die Hauptunterschiede der modernen Statenbildung und<lb/>
der mittelalterlichen sind:</p><lb/>
          <cb/>
          <p><hi rendition="#g">Mittelalterlicher Stat</hi>.</p><lb/>
          <p>1. Das Mittelalter leitet den<lb/>
Stat und die Statsgewalt <hi rendition="#g">von<lb/>
Gott</hi> ab. Der Stat ist eine<lb/>
von Gott gewollte und ge-<lb/>
schaffene Ordnung.</p><lb/>
          <p>2. Die <hi rendition="#g">theologischen</hi><lb/>
Principien sind grundlegend<lb/>
und maszgebend für den Stats-<lb/>
begriff. Der ganz und gar<lb/>
mittelalterliche Islam kennt<lb/>
nur <hi rendition="#g">Ein Gottesreich</hi>, wel-<lb/>
ches von Gott dem Sultan zur<lb/>
Herrschaft verliehen ist. Das<lb/>
christliche Mittelalter will den<lb/>
Dualismus von <hi rendition="#g">Kirche</hi> und<lb/><hi rendition="#g">Stat</hi>, aber es glaubt, dasz<lb/><hi rendition="#g">beide Schwerter</hi>, das<lb/>
geistliche und das weltliche,<lb/>
von Gott verliehen werden,<lb/>
das erste an den Papst, das<lb/>
zweite an den Kaiser. Die</p><lb/>
          <cb/>
          <p><hi rendition="#g">Moderner Stat</hi>.</p><lb/>
          <p>1. Der moderne Stat wird aus<lb/>
der Menschennatur <hi rendition="#g">mensch-<lb/>
lich</hi> begründet. Der Stat ist<lb/>
eine von den Menschen zu<lb/>
menschlichen Zwecken ge-<lb/>
schaffene und verwaltete ge-<lb/>
meinsame Lebensordnung.</p><lb/>
          <p>2. Die weltlichen Wissen-<lb/>
schaften der <hi rendition="#g">Philosophie</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">Geschichte</hi> bestimmen<lb/>
die Grundprincipien des Stats.<lb/>
Die moderne Statswissenschaft<lb/>
geht von der Betrachtung des<lb/>
Menschen aus, wenn sie den<lb/>
Stat erklärt. Die einen den-<lb/>
ken sich den Stat als eine<lb/><hi rendition="#g">Gesellschaft</hi> von Einzel-<lb/>
menschen, welche zum Schutz<lb/>
ihrer Sicherheit und ihrer<lb/>
Freiheit sich vereinbaren, die<lb/>
andern als eine Verkörperung<lb/>
des <hi rendition="#g">Volks</hi> in seiner Einheit.</p><lb/>
          <p>Die moderne Statsidee ist</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[64/0082] Erstes Buch. Der Statsbegriff. Antiker Stat. den Widerstand andrer Sta- ten, thatsächlich aber nicht durch das gemeinsame Völ- kerrecht beschränkt. Rom strebte rücksichtslos die Welt- herrschaft an wie sein na- türliches Vorrecht. Moderner Stat. eine rechtliche Schranke ihrer Herrschaft an. Das Völker- recht schützt den Bestand und die Freiheit aller Völker und Staten und verwirft die Uni- versalherrschaft Eines States über alle Nationen. Die Hauptunterschiede der modernen Statenbildung und der mittelalterlichen sind: Mittelalterlicher Stat. 1. Das Mittelalter leitet den Stat und die Statsgewalt von Gott ab. Der Stat ist eine von Gott gewollte und ge- schaffene Ordnung. 2. Die theologischen Principien sind grundlegend und maszgebend für den Stats- begriff. Der ganz und gar mittelalterliche Islam kennt nur Ein Gottesreich, wel- ches von Gott dem Sultan zur Herrschaft verliehen ist. Das christliche Mittelalter will den Dualismus von Kirche und Stat, aber es glaubt, dasz beide Schwerter, das geistliche und das weltliche, von Gott verliehen werden, das erste an den Papst, das zweite an den Kaiser. Die Moderner Stat. 1. Der moderne Stat wird aus der Menschennatur mensch- lich begründet. Der Stat ist eine von den Menschen zu menschlichen Zwecken ge- schaffene und verwaltete ge- meinsame Lebensordnung. 2. Die weltlichen Wissen- schaften der Philosophie und Geschichte bestimmen die Grundprincipien des Stats. Die moderne Statswissenschaft geht von der Betrachtung des Menschen aus, wenn sie den Stat erklärt. Die einen den- ken sich den Stat als eine Gesellschaft von Einzel- menschen, welche zum Schutz ihrer Sicherheit und ihrer Freiheit sich vereinbaren, die andern als eine Verkörperung des Volks in seiner Einheit. Die moderne Statsidee ist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/82
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/82>, abgerufen am 26.11.2024.