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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.

Während das Leben des Einzelmenschen nach Jahren und nach Jahr-
zehnten bemessen wird, rechnen wir das Leben der Menschheit nach
Jahrhunderten und Jahrtausenden. Innerhalb der einzelnen Weltalter
entdecken wir nochmals denselben Kreislauf und dieselbe Folge der
Altersstufen und nehmen wir wieder erst aufsteigende, dann absteigende
Linien der Entwicklung wahr. Wie den Weltaltern im Groszen, so
sprechen wir ihren Perioden und Phasen im Kleinen einen bestimmten
Charakter und Geist zu. Die erste und die zweite Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts zeigen so einen durchaus verschiedenen Typus ähnlich wie die
erste und zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts.

Diese ganze weltgeschichtliche Betrachtungsweise hat aber eine Wahr-
heit nur unter der Voraussetzung, dasz die Menschheit nicht blosz eine
Summe von Einzelmenschen und dasz das Leben der Menschheit nicht
blosz eine Summe von Einzelleben sei. Sie ruht vielmehr auf der An-
nahme, dasz die Menschheit ein Ganzes sei und dasz es eine Entwick-
lung der Menschheit
im Groszen gebe, welche zu ihrer Bewegung
und zu ihren Fortschritten gröszerer Zeitperioden bedürfe, als die Alters-
perioden der Einzelnen. Indem wir ganze Perioden von Jahrhunderten
und Jahrtausenden überschauen, können wir uns den Eindrücken jenes
groszartigen Zusammenhangs und dieser bestimmten Folge der Entwick-
lung nicht entziehen, und wir schlieszen daraus auf die Einheit des
Menschengeschlechts und auf die Bestimmung der Menschheit, deren
groszes Leben über das kleine Leben der Einzelmenschen hinschreitet,
dem aber das kleine Einzelleben bewuszt oder unbewuszt zu dienen hat.

Wenn diese Wahrnehmung richtig ist, so nöthigt sie uns zu einem
Rückschlusz auf die Dauer der Menschheit, deren Leben die Weltgeschichte
darstellt. Es ist nicht wahrscheinlich, dasz die uns unbekannte oder doch
nur wenig bekannte Kindheitsperiode der Menschheit sich ins Unermesz-
liche ausdehne, während die Jünglingszeit derselben und die seitherige
Entwicklung zu männlicher Reife einige Jahrtausende nicht übersteigt.
Der Unterschied kann nicht ein unverhältniszmäsziger sein. Indessen
scheint dieser Annahme die heutige Naturwissenschaft zu widersprechen.

Wie das Alter der Erdrinde, welches die semitische Schöpfungs-
geschichte auf eine kurze Zeit von wenigen Jahrtausenden zusammen-
gedrängt hat, in Folge einer gründlicheren Forschung ins Ungeheure
ausgedehnt worden ist, und wir hier nach Millionen oder gar nach
Milliarden von Jahren zu rechnen gelernt haben, so hat dieselbe Unter-
suchung auch die Anfänge der Menschheit in eine viel fernere Vorzeit
verlegt, deren weite, kaum näher bestimmbare Zeiten auszer Verhältnisz
sind zu den bekannten Weltaltern der späteren Geschichte. Es ist min-
destens sehr wahrscheinlich, wenn nicht gewisz, dasz es schon vor
Hunderttausenden von Jahren menschenartige Geschöpfe gegeben hat.
Die Naturforschung hat uralte menschliche Knochen- und Schädelreste
entdeckt, die in einer unbekannten Vorzeit mit den Höhlenbären gleich-

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.

Während das Leben des Einzelmenschen nach Jahren und nach Jahr-
zehnten bemessen wird, rechnen wir das Leben der Menschheit nach
Jahrhunderten und Jahrtausenden. Innerhalb der einzelnen Weltalter
entdecken wir nochmals denselben Kreislauf und dieselbe Folge der
Altersstufen und nehmen wir wieder erst aufsteigende, dann absteigende
Linien der Entwicklung wahr. Wie den Weltaltern im Groszen, so
sprechen wir ihren Perioden und Phasen im Kleinen einen bestimmten
Charakter und Geist zu. Die erste und die zweite Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts zeigen so einen durchaus verschiedenen Typus ähnlich wie die
erste und zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts.

Diese ganze weltgeschichtliche Betrachtungsweise hat aber eine Wahr-
heit nur unter der Voraussetzung, dasz die Menschheit nicht blosz eine
Summe von Einzelmenschen und dasz das Leben der Menschheit nicht
blosz eine Summe von Einzelleben sei. Sie ruht vielmehr auf der An-
nahme, dasz die Menschheit ein Ganzes sei und dasz es eine Entwick-
lung der Menschheit
im Groszen gebe, welche zu ihrer Bewegung
und zu ihren Fortschritten gröszerer Zeitperioden bedürfe, als die Alters-
perioden der Einzelnen. Indem wir ganze Perioden von Jahrhunderten
und Jahrtausenden überschauen, können wir uns den Eindrücken jenes
groszartigen Zusammenhangs und dieser bestimmten Folge der Entwick-
lung nicht entziehen, und wir schlieszen daraus auf die Einheit des
Menschengeschlechts und auf die Bestimmung der Menschheit, deren
groszes Leben über das kleine Leben der Einzelmenschen hinschreitet,
dem aber das kleine Einzelleben bewuszt oder unbewuszt zu dienen hat.

Wenn diese Wahrnehmung richtig ist, so nöthigt sie uns zu einem
Rückschlusz auf die Dauer der Menschheit, deren Leben die Weltgeschichte
darstellt. Es ist nicht wahrscheinlich, dasz die uns unbekannte oder doch
nur wenig bekannte Kindheitsperiode der Menschheit sich ins Unermesz-
liche ausdehne, während die Jünglingszeit derselben und die seitherige
Entwicklung zu männlicher Reife einige Jahrtausende nicht übersteigt.
Der Unterschied kann nicht ein unverhältniszmäsziger sein. Indessen
scheint dieser Annahme die heutige Naturwissenschaft zu widersprechen.

Wie das Alter der Erdrinde, welches die semitische Schöpfungs-
geschichte auf eine kurze Zeit von wenigen Jahrtausenden zusammen-
gedrängt hat, in Folge einer gründlicheren Forschung ins Ungeheure
ausgedehnt worden ist, und wir hier nach Millionen oder gar nach
Milliarden von Jahren zu rechnen gelernt haben, so hat dieselbe Unter-
suchung auch die Anfänge der Menschheit in eine viel fernere Vorzeit
verlegt, deren weite, kaum näher bestimmbare Zeiten auszer Verhältnisz
sind zu den bekannten Weltaltern der späteren Geschichte. Es ist min-
destens sehr wahrscheinlich, wenn nicht gewisz, dasz es schon vor
Hunderttausenden von Jahren menschenartige Geschöpfe gegeben hat.
Die Naturforschung hat uralte menschliche Knochen- und Schädelreste
entdeckt, die in einer unbekannten Vorzeit mit den Höhlenbären gleich-

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[59/0077] Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee. Während das Leben des Einzelmenschen nach Jahren und nach Jahr- zehnten bemessen wird, rechnen wir das Leben der Menschheit nach Jahrhunderten und Jahrtausenden. Innerhalb der einzelnen Weltalter entdecken wir nochmals denselben Kreislauf und dieselbe Folge der Altersstufen und nehmen wir wieder erst aufsteigende, dann absteigende Linien der Entwicklung wahr. Wie den Weltaltern im Groszen, so sprechen wir ihren Perioden und Phasen im Kleinen einen bestimmten Charakter und Geist zu. Die erste und die zweite Hälfte des XVIII. Jahr- hunderts zeigen so einen durchaus verschiedenen Typus ähnlich wie die erste und zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts. Diese ganze weltgeschichtliche Betrachtungsweise hat aber eine Wahr- heit nur unter der Voraussetzung, dasz die Menschheit nicht blosz eine Summe von Einzelmenschen und dasz das Leben der Menschheit nicht blosz eine Summe von Einzelleben sei. Sie ruht vielmehr auf der An- nahme, dasz die Menschheit ein Ganzes sei und dasz es eine Entwick- lung der Menschheit im Groszen gebe, welche zu ihrer Bewegung und zu ihren Fortschritten gröszerer Zeitperioden bedürfe, als die Alters- perioden der Einzelnen. Indem wir ganze Perioden von Jahrhunderten und Jahrtausenden überschauen, können wir uns den Eindrücken jenes groszartigen Zusammenhangs und dieser bestimmten Folge der Entwick- lung nicht entziehen, und wir schlieszen daraus auf die Einheit des Menschengeschlechts und auf die Bestimmung der Menschheit, deren groszes Leben über das kleine Leben der Einzelmenschen hinschreitet, dem aber das kleine Einzelleben bewuszt oder unbewuszt zu dienen hat. Wenn diese Wahrnehmung richtig ist, so nöthigt sie uns zu einem Rückschlusz auf die Dauer der Menschheit, deren Leben die Weltgeschichte darstellt. Es ist nicht wahrscheinlich, dasz die uns unbekannte oder doch nur wenig bekannte Kindheitsperiode der Menschheit sich ins Unermesz- liche ausdehne, während die Jünglingszeit derselben und die seitherige Entwicklung zu männlicher Reife einige Jahrtausende nicht übersteigt. Der Unterschied kann nicht ein unverhältniszmäsziger sein. Indessen scheint dieser Annahme die heutige Naturwissenschaft zu widersprechen. Wie das Alter der Erdrinde, welches die semitische Schöpfungs- geschichte auf eine kurze Zeit von wenigen Jahrtausenden zusammen- gedrängt hat, in Folge einer gründlicheren Forschung ins Ungeheure ausgedehnt worden ist, und wir hier nach Millionen oder gar nach Milliarden von Jahren zu rechnen gelernt haben, so hat dieselbe Unter- suchung auch die Anfänge der Menschheit in eine viel fernere Vorzeit verlegt, deren weite, kaum näher bestimmbare Zeiten auszer Verhältnisz sind zu den bekannten Weltaltern der späteren Geschichte. Es ist min- destens sehr wahrscheinlich, wenn nicht gewisz, dasz es schon vor Hunderttausenden von Jahren menschenartige Geschöpfe gegeben hat. Die Naturforschung hat uralte menschliche Knochen- und Schädelreste entdeckt, die in einer unbekannten Vorzeit mit den Höhlenbären gleich-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/77>, abgerufen am 26.11.2024.