Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
vom Protestantismus berührte Stat waren daher relativ neue Erscheinungen. Die Staatsidee selbst aber blieb doch noch wesentlich die mittelalterliche: der Stat galt noch als das leiblich-irdische Reich, die Kirche noch als die vorzugsweise geistige in den Himmel hinein ragende Gemeinschaft der Heiligen.
Der entscheidende Beweis aber dafür, dasz die reforma- torische Bewegung des XVI. Jahrhunderts eher dem seinem Ende zureifenden Weltalter des Mittelalters als der jugendlich aufstrebenden Neuzeit angehört, liegt in dem Charakter der beiden Jahrhunderte von 1540 - 1740. Diese lange Periode macht auf den unbefangenen Betrachter den Eindruck nicht der Jugend, sondern des Alters. Selbst in der protestanti- schen Kirche nimmt sofort wieder eine starre, todte Ortho- doxie überhand, die keine frischeren Triebe aufkommen läszt und das wissenschaftliche Leben fesselt und niederdrückt. In der katholischen Kirche breitet der Jesuitenorden, der ausgesprochenste Träger der künstlich conservirten mittel- alterlichen Hierarchie, seine Macht aus. Der fürstliche Abso- lutismus unterwirft sich den mittelalterlichen Adel und löst das Lehenswesen auf, aber es pulsirt in ihm doch vorzüglich altes Leben. Die absolute Monarchie, die nun auf dem ganzen Continente von Europa herrschend wird und nur in England abgewehrt wird, stützt sich vornehmlich auf alte Ideen, dyna- stische und römische, patrimoniale und theokratische. Auch der behaglich ausschweifende Zopfstyl, der allmählich die Renaissance verdrängt, ist eine ältliche Erscheinung. In alle- dem zeigt sich eher Auflösung, das Absterben des Mittelalters, als eine von Grund aus neue Zeit. Der junge Leibnitz hatte einen so lebhaften Eindruck empfangen von dem ältlichen Charakter seiner Zeit, dass er im Jahre 1669 schrieb: man habe "Grund zu der Annahme, dass die Welt in ihr Greisen- alter eingetreten sei." 1
1Pichler, Theologie von Leibnitz. I. S. 23.
Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
vom Protestantismus berührte Stat waren daher relativ neue Erscheinungen. Die Staatsidee selbst aber blieb doch noch wesentlich die mittelalterliche: der Stat galt noch als das leiblich-irdische Reich, die Kirche noch als die vorzugsweise geistige in den Himmel hinein ragende Gemeinschaft der Heiligen.
Der entscheidende Beweis aber dafür, dasz die reforma- torische Bewegung des XVI. Jahrhunderts eher dem seinem Ende zureifenden Weltalter des Mittelalters als der jugendlich aufstrebenden Neuzeit angehört, liegt in dem Charakter der beiden Jahrhunderte von 1540 - 1740. Diese lange Periode macht auf den unbefangenen Betrachter den Eindruck nicht der Jugend, sondern des Alters. Selbst in der protestanti- schen Kirche nimmt sofort wieder eine starre, todte Ortho- doxie überhand, die keine frischeren Triebe aufkommen läszt und das wissenschaftliche Leben fesselt und niederdrückt. In der katholischen Kirche breitet der Jesuitenorden, der ausgesprochenste Träger der künstlich conservirten mittel- alterlichen Hierarchie, seine Macht aus. Der fürstliche Abso- lutismus unterwirft sich den mittelalterlichen Adel und löst das Lehenswesen auf, aber es pulsirt in ihm doch vorzüglich altes Leben. Die absolute Monarchie, die nun auf dem ganzen Continente von Europa herrschend wird und nur in England abgewehrt wird, stützt sich vornehmlich auf alte Ideen, dyna- stische und römische, patrimoniale und theokratische. Auch der behaglich ausschweifende Zopfstyl, der allmählich die Renaissance verdrängt, ist eine ältliche Erscheinung. In alle- dem zeigt sich eher Auflösung, das Absterben des Mittelalters, als eine von Grund aus neue Zeit. Der junge Leibnitz hatte einen so lebhaften Eindruck empfangen von dem ältlichen Charakter seiner Zeit, dass er im Jahre 1669 schrieb: man habe „Grund zu der Annahme, dass die Welt in ihr Greisen- alter eingetreten sei.“ 1
1Pichler, Theologie von Leibnitz. I. S. 23.
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Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
vom Protestantismus berührte Stat waren daher relativ neue
Erscheinungen. Die Staatsidee selbst aber blieb doch noch
wesentlich die mittelalterliche: der Stat galt noch als das
leiblich-irdische Reich, die Kirche noch als die vorzugsweise
geistige in den Himmel hinein ragende Gemeinschaft der Heiligen.
Der entscheidende Beweis aber dafür, dasz die reforma-
torische Bewegung des XVI. Jahrhunderts eher dem seinem
Ende zureifenden Weltalter des Mittelalters als der jugendlich
aufstrebenden Neuzeit angehört, liegt in dem Charakter der
beiden Jahrhunderte von 1540 - 1740. Diese lange Periode
macht auf den unbefangenen Betrachter den Eindruck nicht
der Jugend, sondern des Alters. Selbst in der protestanti-
schen Kirche nimmt sofort wieder eine starre, todte Ortho-
doxie überhand, die keine frischeren Triebe aufkommen läszt
und das wissenschaftliche Leben fesselt und niederdrückt.
In der katholischen Kirche breitet der Jesuitenorden, der
ausgesprochenste Träger der künstlich conservirten mittel-
alterlichen Hierarchie, seine Macht aus. Der fürstliche Abso-
lutismus unterwirft sich den mittelalterlichen Adel und löst
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altes Leben. Die absolute Monarchie, die nun auf dem ganzen
Continente von Europa herrschend wird und nur in England
abgewehrt wird, stützt sich vornehmlich auf alte Ideen, dyna-
stische und römische, patrimoniale und theokratische. Auch
der behaglich ausschweifende Zopfstyl, der allmählich die
Renaissance verdrängt, ist eine ältliche Erscheinung. In alle-
dem zeigt sich eher Auflösung, das Absterben des Mittelalters,
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einen so lebhaften Eindruck empfangen von dem ältlichen
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habe „Grund zu der Annahme, dass die Welt in ihr Greisen-
alter eingetreten sei.“ 1
1 Pichler, Theologie von Leibnitz. I. S. 23.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/73>, abgerufen am 25.11.2024.
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