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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
ist schon durch die Einheit des Lebens bedingt. Es ist nicht
anders mit den Altersstufen des Einzellebens. Aber trotz dem
haben wir ein Bedürfnisz, uns über die verschiedenen Zeit-
perioden zurecht zu finden, die an den Grenzen in einander
übergehen, und die dennoch im Groszen betrachtet wohl zu
unterscheiden sind.

1. Manche datiren den Anfang der neuen Zeit schon
von der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Das Zeitalter
der Renaissance erscheint ihnen als die Wandlung aus
dem Mittelalter zur modernen Welt. Das Erwachen des philo-
sophischen Geistesbewusstseins aus mehr als tausendjährigem
Schlummer, das Wiederaufleben der antiken Ideen und Er-
innerungen im Gegensatze zu dem mittelalterlichen Glauben
und den mittelalterlichen Institutionen, die erneuerte Blüthe
einer freieren und froheren Kunst nach dem Vorbilde der
klassischen Kunstwerke, die Erhebung vorzüglich der italieni-
schen Städte, die sich nicht scheuten, der Vormundschaft der
päpstlichen Hierarchie sich gelegentlich zu entwinden, die
Ausbreitung des römischen Rechts und sein Vorzug vor dem
kanonischen Rechte, die Erfindung der Buchdruckerkunst und
die Ausstreuung der Druckschriften, die Erfindung des Pulvers
und die Umbildung der Heere; die kühnere Seefahrt und die
Entdeckung unbekannter Länder an den Küsten von Afrika
und in Indien und eines neuen Welttheils im Westen; all' das
weist allerdings auf eine Wendung hin aus dem Mittelalter in
die Neuzeit. Aber es ist doch noch nicht der Abschlusz des
Mittelalters, sondern nur die absteigende Entwicklung des
Mittelalters, welche der aufsteigenden Richtung der Neuzeit
vorarbeitet und vorausgeht. Der damalige Zeitgeist hat doch
eher einen reifen, als einen jugendlichen oder gar kindlichen
Charakter. Er will weniger Neues schaffen, als Altes erneuern.
Es sind durchweg antike Ideen und antike Vorbilder, denen
er nachstrebt. Er reformirt theilweise und er erschüttert
theilweise die mittelalterliche Weltordnung, aber er stürzt sie

Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee.
ist schon durch die Einheit des Lebens bedingt. Es ist nicht
anders mit den Altersstufen des Einzellebens. Aber trotz dem
haben wir ein Bedürfnisz, uns über die verschiedenen Zeit-
perioden zurecht zu finden, die an den Grenzen in einander
übergehen, und die dennoch im Groszen betrachtet wohl zu
unterscheiden sind.

1. Manche datiren den Anfang der neuen Zeit schon
von der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Das Zeitalter
der Renaissance erscheint ihnen als die Wandlung aus
dem Mittelalter zur modernen Welt. Das Erwachen des philo-
sophischen Geistesbewusstseins aus mehr als tausendjährigem
Schlummer, das Wiederaufleben der antiken Ideen und Er-
innerungen im Gegensatze zu dem mittelalterlichen Glauben
und den mittelalterlichen Institutionen, die erneuerte Blüthe
einer freieren und froheren Kunst nach dem Vorbilde der
klassischen Kunstwerke, die Erhebung vorzüglich der italieni-
schen Städte, die sich nicht scheuten, der Vormundschaft der
päpstlichen Hierarchie sich gelegentlich zu entwinden, die
Ausbreitung des römischen Rechts und sein Vorzug vor dem
kanonischen Rechte, die Erfindung der Buchdruckerkunst und
die Ausstreuung der Druckschriften, die Erfindung des Pulvers
und die Umbildung der Heere; die kühnere Seefahrt und die
Entdeckung unbekannter Länder an den Küsten von Afrika
und in Indien und eines neuen Welttheils im Westen; all' das
weist allerdings auf eine Wendung hin aus dem Mittelalter in
die Neuzeit. Aber es ist doch noch nicht der Abschlusz des
Mittelalters, sondern nur die absteigende Entwicklung des
Mittelalters, welche der aufsteigenden Richtung der Neuzeit
vorarbeitet und vorausgeht. Der damalige Zeitgeist hat doch
eher einen reifen, als einen jugendlichen oder gar kindlichen
Charakter. Er will weniger Neues schaffen, als Altes erneuern.
Es sind durchweg antike Ideen und antike Vorbilder, denen
er nachstrebt. Er reformirt theilweise und er erschüttert
theilweise die mittelalterliche Weltordnung, aber er stürzt sie

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[53/0071] Fünftes Cap. Entwicklungsgesch. der Statsidee. III. Die moderne Statsidee. ist schon durch die Einheit des Lebens bedingt. Es ist nicht anders mit den Altersstufen des Einzellebens. Aber trotz dem haben wir ein Bedürfnisz, uns über die verschiedenen Zeit- perioden zurecht zu finden, die an den Grenzen in einander übergehen, und die dennoch im Groszen betrachtet wohl zu unterscheiden sind. 1. Manche datiren den Anfang der neuen Zeit schon von der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Das Zeitalter der Renaissance erscheint ihnen als die Wandlung aus dem Mittelalter zur modernen Welt. Das Erwachen des philo- sophischen Geistesbewusstseins aus mehr als tausendjährigem Schlummer, das Wiederaufleben der antiken Ideen und Er- innerungen im Gegensatze zu dem mittelalterlichen Glauben und den mittelalterlichen Institutionen, die erneuerte Blüthe einer freieren und froheren Kunst nach dem Vorbilde der klassischen Kunstwerke, die Erhebung vorzüglich der italieni- schen Städte, die sich nicht scheuten, der Vormundschaft der päpstlichen Hierarchie sich gelegentlich zu entwinden, die Ausbreitung des römischen Rechts und sein Vorzug vor dem kanonischen Rechte, die Erfindung der Buchdruckerkunst und die Ausstreuung der Druckschriften, die Erfindung des Pulvers und die Umbildung der Heere; die kühnere Seefahrt und die Entdeckung unbekannter Länder an den Küsten von Afrika und in Indien und eines neuen Welttheils im Westen; all' das weist allerdings auf eine Wendung hin aus dem Mittelalter in die Neuzeit. Aber es ist doch noch nicht der Abschlusz des Mittelalters, sondern nur die absteigende Entwicklung des Mittelalters, welche der aufsteigenden Richtung der Neuzeit vorarbeitet und vorausgeht. Der damalige Zeitgeist hat doch eher einen reifen, als einen jugendlichen oder gar kindlichen Charakter. Er will weniger Neues schaffen, als Altes erneuern. Es sind durchweg antike Ideen und antike Vorbilder, denen er nachstrebt. Er reformirt theilweise und er erschüttert theilweise die mittelalterliche Weltordnung, aber er stürzt sie

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/71>, abgerufen am 25.11.2024.