dulden. Der römische Begriff des imperium ist ihnen fremd. Sie wollen mitrathen und mitstimmen, wenn sie gehorchen sollen. Ihre Stände sind eine politische Macht, mit welcher die Königsmacht sich vereinbaren musz, um Gesetze zu geben. Der Gedanke des Stats als einer Gesammtperson liegt ihnen noch fern und ist ihnen meist unverständlich. Sie lösen den Stat eher auf in leibhafte Personen oder Gruppen von Personen; sie begreifen ihn zunächst in dem Könige oder andern Fürsten, welche das Gericht und die Volksversammlung leiten, in den Vorständen der Gaue und Zenten, in der Volksgemeinde. Je durch die einen Personen werden die andern theils verstärkt, theils beschränkt. So wird die ganze Einrichtung des Gemein- wesens auch in ihren Theilen von dem Geiste der Freiheit erfüllt. Die Einheit ist verhältniszmäszig schwach, aber die relative Selbständigkeit der Glieder stark.
Diese Aenderungen der Statsidee, in denen wir erhebliche Fortschritte erkennen, zeigten sich übrigens mehr in der Praxis als in der Theorie. Eine germanische Statslehre gab es über- haupt nicht. Die Wissenschaft ward im Mittelalter zuerst von der Kirche beherrscht, später durch die Ueberlieferung der römischen Jurisprudenz und der griechischen Philosophie be- stimmt. Schon in den alten Volksgesetzen finden sich der- artige Reminiscenzen. In dem westgothischen Gesetze z. B. wird nach dem Vorbild der classischen Literatur der Stats- körper mit dem Menschen, der König mit dem Haupt, das Volk mit den Gliedern des Leibes verglichen. 3 Aber das war nur ein erborgter Schmuck der Rede, ohne tiefere Bedeutung. Der mittelalterliche Stat war damit gar nicht bezeichnet.
3Lex Wisigothor. II. 1. §. 4. "Bene Deus conditor rerum disponens humani corporis formam, in sublime caput erexit, atque ex illo cunctas membrorum fibras exoriri decrevit. Hinc est et peritorum medicorum praecipua cura, ut ante capiti quam membris incipiant adhibere medelam. Sicque in Statu et negotiis plebium ordinatio dirigenda, ut dum salus competens prospicitur Regum, fida valentibus teneatur salvatio populorum."
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
dulden. Der römische Begriff des imperium ist ihnen fremd. Sie wollen mitrathen und mitstimmen, wenn sie gehorchen sollen. Ihre Stände sind eine politische Macht, mit welcher die Königsmacht sich vereinbaren musz, um Gesetze zu geben. Der Gedanke des Stats als einer Gesammtperson liegt ihnen noch fern und ist ihnen meist unverständlich. Sie lösen den Stat eher auf in leibhafte Personen oder Gruppen von Personen; sie begreifen ihn zunächst in dem Könige oder andern Fürsten, welche das Gericht und die Volksversammlung leiten, in den Vorständen der Gaue und Zenten, in der Volksgemeinde. Je durch die einen Personen werden die andern theils verstärkt, theils beschränkt. So wird die ganze Einrichtung des Gemein- wesens auch in ihren Theilen von dem Geiste der Freiheit erfüllt. Die Einheit ist verhältniszmäszig schwach, aber die relative Selbständigkeit der Glieder stark.
Diese Aenderungen der Statsidee, in denen wir erhebliche Fortschritte erkennen, zeigten sich übrigens mehr in der Praxis als in der Theorie. Eine germanische Statslehre gab es über- haupt nicht. Die Wissenschaft ward im Mittelalter zuerst von der Kirche beherrscht, später durch die Ueberlieferung der römischen Jurisprudenz und der griechischen Philosophie be- stimmt. Schon in den alten Volksgesetzen finden sich der- artige Reminiscenzen. In dem westgothischen Gesetze z. B. wird nach dem Vorbild der classischen Literatur der Stats- körper mit dem Menschen, der König mit dem Haupt, das Volk mit den Gliedern des Leibes verglichen. 3 Aber das war nur ein erborgter Schmuck der Rede, ohne tiefere Bedeutung. Der mittelalterliche Stat war damit gar nicht bezeichnet.
3Lex Wisigothor. II. 1. §. 4. „Bene Deus conditor rerum disponens humani corporis formam, in sublime caput erexit, atque ex illo cunctas membrorum fibras exoriri decrevit. Hinc est et peritorum medicorum praecipua cura, ut ante capiti quam membris incipiant adhibere medelam. Sicque in Statu et negotiis plebium ordinatio dirigenda, ut dum salus competens prospicitur Regum, fida valentibus teneatur salvatio populorum.“
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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
dulden. Der römische Begriff des imperium ist ihnen fremd.
Sie wollen mitrathen und mitstimmen, wenn sie gehorchen
sollen. Ihre Stände sind eine politische Macht, mit welcher
die Königsmacht sich vereinbaren musz, um Gesetze zu geben.
Der Gedanke des Stats als einer Gesammtperson liegt ihnen
noch fern und ist ihnen meist unverständlich. Sie lösen den
Stat eher auf in leibhafte Personen oder Gruppen von Personen;
sie begreifen ihn zunächst in dem Könige oder andern Fürsten,
welche das Gericht und die Volksversammlung leiten, in den
Vorständen der Gaue und Zenten, in der Volksgemeinde. Je
durch die einen Personen werden die andern theils verstärkt,
theils beschränkt. So wird die ganze Einrichtung des Gemein-
wesens auch in ihren Theilen von dem Geiste der Freiheit
erfüllt. Die Einheit ist verhältniszmäszig schwach, aber die
relative Selbständigkeit der Glieder stark.
Diese Aenderungen der Statsidee, in denen wir erhebliche
Fortschritte erkennen, zeigten sich übrigens mehr in der Praxis
als in der Theorie. Eine germanische Statslehre gab es über-
haupt nicht. Die Wissenschaft ward im Mittelalter zuerst von
der Kirche beherrscht, später durch die Ueberlieferung der
römischen Jurisprudenz und der griechischen Philosophie be-
stimmt. Schon in den alten Volksgesetzen finden sich der-
artige Reminiscenzen. In dem westgothischen Gesetze z. B.
wird nach dem Vorbild der classischen Literatur der Stats-
körper mit dem Menschen, der König mit dem Haupt, das
Volk mit den Gliedern des Leibes verglichen. 3 Aber das war
nur ein erborgter Schmuck der Rede, ohne tiefere Bedeutung.
Der mittelalterliche Stat war damit gar nicht bezeichnet.
3 Lex Wisigothor. II. 1. §. 4. „Bene Deus conditor rerum disponens
humani corporis formam, in sublime caput erexit, atque ex illo cunctas
membrorum fibras exoriri decrevit. Hinc est et peritorum medicorum
praecipua cura, ut ante capiti quam membris incipiant adhibere medelam.
Sicque in Statu et negotiis plebium ordinatio dirigenda, ut dum salus
competens prospicitur Regum, fida valentibus teneatur salvatio populorum.“
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/64>, abgerufen am 16.07.2024.
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