Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
Staten in Demokratien verwandelt, den einer Souveränetät bald
der Vernunft bald der Gerechtigkeit entgegenzusetzen. 3
Durch Hinweisung auf jene oder diese gedachte man dem
Miszbrauche zu begegnen, welchen das Volk von der Souve-
ränetät machen möchte. Allein diese Vorstellung übersieht,
dasz das Recht nur der Person, das statliche Hoheitsrecht
nur einer statlichen Persönlichkeit zukomme und von
dieser nach Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit aus-
geübt werden solle. Dem Irrthum, der in der absoluten De-
mokratie die alleinige Grundform des States erkennt, tritt
hier der Irrthum der Ideokratie entgegen, in der wohl-
gemeinten Absicht, die Volksmehrheit durch die Herrschaft
der Idee zu leiten. Aber es bleibt dieser Widerspruch er-
folglos, weil die Macht der Persönlichkeit stärker ist als alle
Fiction.

5. Eine andere Meinung nennt die als Einheit gedachte,
zwar noch nicht oder nicht zureichend organisirte, aber der
Organisation fähige Nation mit ihren Instincten, ihrer
Sprache, ihren Gefühlen, ihren socialen Gegensätzen das

3 Z. B. Royer-Collard in der Rede vom 27. Mai 1820: "Es gibt
zwei Elemente in der Gesellschaft: das eine ein materielles, d. h.
das Individuum, seine Kraft und sein Wille" [ -- ist denn das Indi-
viduum, seine Kraft und sein Wille materiell? Und ist nicht auch hier
wieder der alte Irrthum wahrnehmbar, dasz vom Individuum aus das
Statsrecht bestimmt werde? -- ] "das andere ein moralisches, d. h.
das Recht, welches aus den berechtigten Verhältnissen hervorgeht. Wollen
Sie die Gesellschaft aus dem materiellen Elemente ableiten? Die Mehr-
heit der Individuen, die Mehrheit der Willen soll der Souverän sein.
Das ist die Volkssouveränetät. Wenn mit Willen oder gegen ihren
Willen diese blinde und gewaltsame Souveränetät in die Hand eines Ein-
zelnen oder einer Classe übergeht, ohne ihren Charakter zu ändern, so
wird sie zwar zu einer weiseren und gemäszigteren Macht, aber sie bleibt
immerhin rohe Kraft. Das ist die Wurzel der absoluten Macht und der
Privilegien. Wollen sie im Gegentheil die Gesellschaft auf das moralische
Element, d. h. das Recht begründen? Dann ist die Gerechtigkeit
der Souverän, weil die Gerechtigkeit die Regel des Rechts ist. Die freien
Verfassungen haben den Zweck, die rohe Kraft zu entthronen und die
Gerechtigkeit zur Herrschaft zu erheben."

Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
Staten in Demokratien verwandelt, den einer Souveränetät bald
der Vernunft bald der Gerechtigkeit entgegenzusetzen. 3
Durch Hinweisung auf jene oder diese gedachte man dem
Miszbrauche zu begegnen, welchen das Volk von der Souve-
ränetät machen möchte. Allein diese Vorstellung übersieht,
dasz das Recht nur der Person, das statliche Hoheitsrecht
nur einer statlichen Persönlichkeit zukomme und von
dieser nach Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit aus-
geübt werden solle. Dem Irrthum, der in der absoluten De-
mokratie die alleinige Grundform des States erkennt, tritt
hier der Irrthum der Ideokratie entgegen, in der wohl-
gemeinten Absicht, die Volksmehrheit durch die Herrschaft
der Idee zu leiten. Aber es bleibt dieser Widerspruch er-
folglos, weil die Macht der Persönlichkeit stärker ist als alle
Fiction.

5. Eine andere Meinung nennt die als Einheit gedachte,
zwar noch nicht oder nicht zureichend organisirte, aber der
Organisation fähige Nation mit ihren Instincten, ihrer
Sprache, ihren Gefühlen, ihren socialen Gegensätzen das

3 Z. B. Royer-Collard in der Rede vom 27. Mai 1820: „Es gibt
zwei Elemente in der Gesellschaft: das eine ein materielles, d. h.
das Individuum, seine Kraft und sein Wille“ [ — ist denn das Indi-
viduum, seine Kraft und sein Wille materiell? Und ist nicht auch hier
wieder der alte Irrthum wahrnehmbar, dasz vom Individuum aus das
Statsrecht bestimmt werde? — ] „das andere ein moralisches, d. h.
das Recht, welches aus den berechtigten Verhältnissen hervorgeht. Wollen
Sie die Gesellschaft aus dem materiellen Elemente ableiten? Die Mehr-
heit der Individuen, die Mehrheit der Willen soll der Souverän sein.
Das ist die Volkssouveränetät. Wenn mit Willen oder gegen ihren
Willen diese blinde und gewaltsame Souveränetät in die Hand eines Ein-
zelnen oder einer Classe übergeht, ohne ihren Charakter zu ändern, so
wird sie zwar zu einer weiseren und gemäszigteren Macht, aber sie bleibt
immerhin rohe Kraft. Das ist die Wurzel der absoluten Macht und der
Privilegien. Wollen sie im Gegentheil die Gesellschaft auf das moralische
Element, d. h. das Recht begründen? Dann ist die Gerechtigkeit
der Souverän, weil die Gerechtigkeit die Regel des Rechts ist. Die freien
Verfassungen haben den Zweck, die rohe Kraft zu entthronen und die
Gerechtigkeit zur Herrschaft zu erheben.“
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0587" n="569"/><fw place="top" type="header">Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.</fw><lb/>
Staten in Demokratien verwandelt, den einer Souveränetät bald<lb/>
der <hi rendition="#g">Vernunft</hi> bald der <hi rendition="#g">Gerechtigkeit</hi> entgegenzusetzen. <note place="foot" n="3">Z. B. <hi rendition="#g">Royer-Collard</hi> in der Rede vom 27. Mai 1820: &#x201E;Es gibt<lb/>
zwei Elemente in der Gesellschaft: das eine ein <hi rendition="#g">materielles</hi>, d. h.<lb/>
das <hi rendition="#g">Individuum</hi>, seine Kraft und sein Wille&#x201C; [ &#x2014; ist denn das Indi-<lb/>
viduum, seine Kraft und sein Wille materiell? Und ist nicht auch hier<lb/>
wieder der alte Irrthum wahrnehmbar, dasz vom Individuum aus das<lb/>
Statsrecht bestimmt werde? &#x2014; ] &#x201E;das andere ein <hi rendition="#g">moralisches</hi>, d. h.<lb/>
das Recht, welches aus den berechtigten Verhältnissen hervorgeht. Wollen<lb/>
Sie die Gesellschaft aus dem materiellen Elemente ableiten? Die Mehr-<lb/>
heit der Individuen, die Mehrheit der Willen soll der Souverän sein.<lb/>
Das ist die Volkssouveränetät. Wenn mit Willen oder gegen ihren<lb/>
Willen diese blinde und gewaltsame Souveränetät in die Hand eines Ein-<lb/>
zelnen oder einer Classe übergeht, ohne ihren Charakter zu ändern, so<lb/>
wird sie zwar zu einer weiseren und gemäszigteren Macht, aber sie bleibt<lb/>
immerhin rohe Kraft. Das ist die Wurzel der absoluten Macht und der<lb/>
Privilegien. Wollen sie im Gegentheil die Gesellschaft auf das moralische<lb/>
Element, d. h. das Recht begründen? Dann ist die <hi rendition="#g">Gerechtigkeit</hi><lb/>
der Souverän, weil die Gerechtigkeit die Regel des Rechts ist. Die freien<lb/>
Verfassungen haben den Zweck, die rohe Kraft zu entthronen und die<lb/>
Gerechtigkeit zur Herrschaft zu erheben.&#x201C;</note><lb/>
Durch Hinweisung auf jene oder diese gedachte man dem<lb/>
Miszbrauche zu begegnen, welchen das Volk von der Souve-<lb/>
ränetät machen möchte. Allein diese Vorstellung übersieht,<lb/>
dasz das Recht nur der <hi rendition="#g">Person</hi>, das statliche Hoheitsrecht<lb/>
nur einer <hi rendition="#g">statlichen Persönlichkeit</hi> zukomme und von<lb/>
dieser nach Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit aus-<lb/>
geübt werden solle. Dem Irrthum, der in der absoluten De-<lb/>
mokratie die alleinige Grundform des States erkennt, tritt<lb/>
hier der Irrthum der <hi rendition="#g">Ideokratie</hi> entgegen, in der wohl-<lb/>
gemeinten Absicht, die Volksmehrheit durch die Herrschaft<lb/>
der Idee zu leiten. Aber es bleibt dieser Widerspruch er-<lb/>
folglos, weil die Macht der Persönlichkeit stärker ist als alle<lb/>
Fiction.</p><lb/>
          <p>5. Eine andere Meinung nennt die als <hi rendition="#g">Einheit</hi> gedachte,<lb/>
zwar noch nicht oder nicht zureichend organisirte, aber der<lb/>
Organisation fähige <hi rendition="#g">Nation</hi> mit ihren Instincten, ihrer<lb/>
Sprache, ihren Gefühlen, ihren socialen Gegensätzen das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[569/0587] Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät. Staten in Demokratien verwandelt, den einer Souveränetät bald der Vernunft bald der Gerechtigkeit entgegenzusetzen. 3 Durch Hinweisung auf jene oder diese gedachte man dem Miszbrauche zu begegnen, welchen das Volk von der Souve- ränetät machen möchte. Allein diese Vorstellung übersieht, dasz das Recht nur der Person, das statliche Hoheitsrecht nur einer statlichen Persönlichkeit zukomme und von dieser nach Grundsätzen der Vernunft und Gerechtigkeit aus- geübt werden solle. Dem Irrthum, der in der absoluten De- mokratie die alleinige Grundform des States erkennt, tritt hier der Irrthum der Ideokratie entgegen, in der wohl- gemeinten Absicht, die Volksmehrheit durch die Herrschaft der Idee zu leiten. Aber es bleibt dieser Widerspruch er- folglos, weil die Macht der Persönlichkeit stärker ist als alle Fiction. 5. Eine andere Meinung nennt die als Einheit gedachte, zwar noch nicht oder nicht zureichend organisirte, aber der Organisation fähige Nation mit ihren Instincten, ihrer Sprache, ihren Gefühlen, ihren socialen Gegensätzen das 3 Z. B. Royer-Collard in der Rede vom 27. Mai 1820: „Es gibt zwei Elemente in der Gesellschaft: das eine ein materielles, d. h. das Individuum, seine Kraft und sein Wille“ [ — ist denn das Indi- viduum, seine Kraft und sein Wille materiell? Und ist nicht auch hier wieder der alte Irrthum wahrnehmbar, dasz vom Individuum aus das Statsrecht bestimmt werde? — ] „das andere ein moralisches, d. h. das Recht, welches aus den berechtigten Verhältnissen hervorgeht. Wollen Sie die Gesellschaft aus dem materiellen Elemente ableiten? Die Mehr- heit der Individuen, die Mehrheit der Willen soll der Souverän sein. Das ist die Volkssouveränetät. Wenn mit Willen oder gegen ihren Willen diese blinde und gewaltsame Souveränetät in die Hand eines Ein- zelnen oder einer Classe übergeht, ohne ihren Charakter zu ändern, so wird sie zwar zu einer weiseren und gemäszigteren Macht, aber sie bleibt immerhin rohe Kraft. Das ist die Wurzel der absoluten Macht und der Privilegien. Wollen sie im Gegentheil die Gesellschaft auf das moralische Element, d. h. das Recht begründen? Dann ist die Gerechtigkeit der Souverän, weil die Gerechtigkeit die Regel des Rechts ist. Die freien Verfassungen haben den Zweck, die rohe Kraft zu entthronen und die Gerechtigkeit zur Herrschaft zu erheben.“

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/587
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 569. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/587>, abgerufen am 22.11.2024.