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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
noch behaupten ihre Vertheidiger gewöhnlich die Allgemein-
gültigkeit
derselben. Das aber ist gerade das Gefährliche
dieser Theorie, dasz ihre Anerkennung den vollständigen Um-
sturz aller andern Statsformen, mit einziger Ausnahme der
unmittelbaren Demokratie, und die Umwandlung jener in diese
im Princip voraussetzt und fordert.

Dieselbe ist daher wohl schon von ganz entgegengesetzten
Parteien 1 verfochten worden, aber immer nur von solchen,
wenn anders mit Bewusztsein, welche mit der bestehenden
Statsordnung oder Statsregierung unzufrieden dieselbe zu un-
tergraben und zu stürzen strebten. In der Hand der franzö-
sischen Revolution war dieselbe daher auch eine furchtbare
Waffe der Zerstörung. Schon die Nationalversammlung in ihrer
Kriegserklärung vom 20. April 1792 verkündete die Rousseau-
sche Theorie officiel: "Ohne Zweifel hat die französische

1 Wir erinnern hier voraus an die Theorie des Jesuitengenerals
Lainez und der Jesuiten Bellarmin und Mariana, welche, in der
Absicht die Oberherrlichkeit der Kirche über den Stat zu begründen,
und auch die Könige dem Papste, der allein von Gott seine Gewalt em-
pfange, nicht wie jene von der Menge des Volkes, zu unterwerfen, die
Volkssouveränetät in Schutz nahmen. Vgl. darüber L. Ranke's hist.
polit. Zeitschr. II, S. 606 ff. Einfluszreicher aber war in neuerer Zeit
die Ausführung dieser Lehre durch Rousseau. Er nennt das aus allen
Einzelnen gebildete Volk den Souverän. Nach ihm ist jedes Indivi-
duum zugleich ein Theilhaber der Souveränetät und hinwieder ein Unter-
than des Souveräns, und da er die Souveränetät für den allgemeinen
Willen und diesen für unveräuszerlich erklärt, so kommt er consequent
zu dem Satze, dasz die Mehrheit jederzeit berechtigt sei, der bestehen-
den Obrigkeit den Gehorsam aufzukündigen, diese zu entsetzen und die
Verfassung beliebig zu ändern. Indem sie das thut, übt sie nach Rous-
seau nur "Acte ihrer Souveränetät" aus, und vor der leibhaften
Manifestation eines so geäuszerten Volkswillens verschwindet auch die
abgeleitete Autorität der Stellvertretung des Volks in den National-
versammlungen
in Nichts. Das Volk aber kann, wie Rousseau meint,
sich selber nicht binden weder durch Verfassung noch durch Gesetze,
denn diese sind nur Aeuszerungen seines Willens, die so lange gelten
als dieser Wille selbst sie aufrecht erhalten will. -- Dasz mit dieser Lehre
die Fortdauer der Rechtsordnung nicht bestehen kann, und solche Frei-
heit ohne Bestand und ohne Treue ist, bedarf keines weitern Beweises.

Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät.
noch behaupten ihre Vertheidiger gewöhnlich die Allgemein-
gültigkeit
derselben. Das aber ist gerade das Gefährliche
dieser Theorie, dasz ihre Anerkennung den vollständigen Um-
sturz aller andern Statsformen, mit einziger Ausnahme der
unmittelbaren Demokratie, und die Umwandlung jener in diese
im Princip voraussetzt und fordert.

Dieselbe ist daher wohl schon von ganz entgegengesetzten
Parteien 1 verfochten worden, aber immer nur von solchen,
wenn anders mit Bewusztsein, welche mit der bestehenden
Statsordnung oder Statsregierung unzufrieden dieselbe zu un-
tergraben und zu stürzen strebten. In der Hand der franzö-
sischen Revolution war dieselbe daher auch eine furchtbare
Waffe der Zerstörung. Schon die Nationalversammlung in ihrer
Kriegserklärung vom 20. April 1792 verkündete die Rousseau-
sche Theorie officiel: „Ohne Zweifel hat die französische

1 Wir erinnern hier voraus an die Theorie des Jesuitengenerals
Lainez und der Jesuiten Bellarmin und Mariana, welche, in der
Absicht die Oberherrlichkeit der Kirche über den Stat zu begründen,
und auch die Könige dem Papste, der allein von Gott seine Gewalt em-
pfange, nicht wie jene von der Menge des Volkes, zu unterwerfen, die
Volkssouveränetät in Schutz nahmen. Vgl. darüber L. Ranke's hist.
polit. Zeitschr. II, S. 606 ff. Einfluszreicher aber war in neuerer Zeit
die Ausführung dieser Lehre durch Rousseau. Er nennt das aus allen
Einzelnen gebildete Volk den Souverän. Nach ihm ist jedes Indivi-
duum zugleich ein Theilhaber der Souveränetät und hinwieder ein Unter-
than des Souveräns, und da er die Souveränetät für den allgemeinen
Willen und diesen für unveräuszerlich erklärt, so kommt er consequent
zu dem Satze, dasz die Mehrheit jederzeit berechtigt sei, der bestehen-
den Obrigkeit den Gehorsam aufzukündigen, diese zu entsetzen und die
Verfassung beliebig zu ändern. Indem sie das thut, übt sie nach Rous-
seau nur „Acte ihrer Souveränetät“ aus, und vor der leibhaften
Manifestation eines so geäuszerten Volkswillens verschwindet auch die
abgeleitete Autorität der Stellvertretung des Volks in den National-
versammlungen
in Nichts. Das Volk aber kann, wie Rousseau meint,
sich selber nicht binden weder durch Verfassung noch durch Gesetze,
denn diese sind nur Aeuszerungen seines Willens, die so lange gelten
als dieser Wille selbst sie aufrecht erhalten will. — Dasz mit dieser Lehre
die Fortdauer der Rechtsordnung nicht bestehen kann, und solche Frei-
heit ohne Bestand und ohne Treue ist, bedarf keines weitern Beweises.
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[567/0585] Zweites Capitel. Statssouveränetät und Regentensouveränetät. noch behaupten ihre Vertheidiger gewöhnlich die Allgemein- gültigkeit derselben. Das aber ist gerade das Gefährliche dieser Theorie, dasz ihre Anerkennung den vollständigen Um- sturz aller andern Statsformen, mit einziger Ausnahme der unmittelbaren Demokratie, und die Umwandlung jener in diese im Princip voraussetzt und fordert. Dieselbe ist daher wohl schon von ganz entgegengesetzten Parteien 1 verfochten worden, aber immer nur von solchen, wenn anders mit Bewusztsein, welche mit der bestehenden Statsordnung oder Statsregierung unzufrieden dieselbe zu un- tergraben und zu stürzen strebten. In der Hand der franzö- sischen Revolution war dieselbe daher auch eine furchtbare Waffe der Zerstörung. Schon die Nationalversammlung in ihrer Kriegserklärung vom 20. April 1792 verkündete die Rousseau- sche Theorie officiel: „Ohne Zweifel hat die französische 1 Wir erinnern hier voraus an die Theorie des Jesuitengenerals Lainez und der Jesuiten Bellarmin und Mariana, welche, in der Absicht die Oberherrlichkeit der Kirche über den Stat zu begründen, und auch die Könige dem Papste, der allein von Gott seine Gewalt em- pfange, nicht wie jene von der Menge des Volkes, zu unterwerfen, die Volkssouveränetät in Schutz nahmen. Vgl. darüber L. Ranke's hist. polit. Zeitschr. II, S. 606 ff. Einfluszreicher aber war in neuerer Zeit die Ausführung dieser Lehre durch Rousseau. Er nennt das aus allen Einzelnen gebildete Volk den Souverän. Nach ihm ist jedes Indivi- duum zugleich ein Theilhaber der Souveränetät und hinwieder ein Unter- than des Souveräns, und da er die Souveränetät für den allgemeinen Willen und diesen für unveräuszerlich erklärt, so kommt er consequent zu dem Satze, dasz die Mehrheit jederzeit berechtigt sei, der bestehen- den Obrigkeit den Gehorsam aufzukündigen, diese zu entsetzen und die Verfassung beliebig zu ändern. Indem sie das thut, übt sie nach Rous- seau nur „Acte ihrer Souveränetät“ aus, und vor der leibhaften Manifestation eines so geäuszerten Volkswillens verschwindet auch die abgeleitete Autorität der Stellvertretung des Volks in den National- versammlungen in Nichts. Das Volk aber kann, wie Rousseau meint, sich selber nicht binden weder durch Verfassung noch durch Gesetze, denn diese sind nur Aeuszerungen seines Willens, die so lange gelten als dieser Wille selbst sie aufrecht erhalten will. — Dasz mit dieser Lehre die Fortdauer der Rechtsordnung nicht bestehen kann, und solche Frei- heit ohne Bestand und ohne Treue ist, bedarf keines weitern Beweises.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/585>, abgerufen am 25.11.2024.