Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
staten oder ein schutzherrlicher Stat gegenüber den schutzbedürftigen Nebenstaten. Hier ist eine relative Selb- ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober- oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammen- gesetzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung ent- spricht aber noch eher die schutzherrliche als die Lehensform, obwohl auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleich- artiger Kräfte einen Sinn hat und einem freien Volke niemals zusagen wird. Die Napoleonische Protection des Rheinbunds, die englische über die Jonischen Inseln, die europäische über die Moldau und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt werden.
III. Verwandt damit aber ermäszigt und veredelt durch die Rücksichten der Pietät ist das Verhältnisz des Mutter- stats zu den noch nicht ganz selbstmächtigen, aber bereits zu einer statenartigen Organisation erwachsenen Colonial- ländern. In den äuszern Beziehungen vorzüglich wird die Colonie, auch wenn sie im Innern wesentlich selbständig ge- worden ist, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen, und insofern eine relative Ueberordnung desselben aner- kennen. Dieses Verhältnisz einer relativen Selbständigkeit der Coloniestaten ist zuerst von England gegenüber von Ca- nada ausgebildet worden.
IV. Der Statenbund und die Personalunion2 setzen die volle Hoheit und Selbständigkeit der verbundenen Staten als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise, soweit das gemeinsame Schicksal der Verbindung es nöthig er- scheinen läszt. Die Einzelstaten sind hier wohl als Staten or- ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als eine unentwickelte Statengemeinschaft, die nur in einzelnen
2 Vgl. oben S. 308 und 311.
Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
staten oder ein schutzherrlicher Stat gegenüber den schutzbedürftigen Nebenstaten. Hier ist eine relative Selb- ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober- oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammen- gesetzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung ent- spricht aber noch eher die schutzherrliche als die Lehensform, obwohl auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleich- artiger Kräfte einen Sinn hat und einem freien Volke niemals zusagen wird. Die Napoleonische Protection des Rheinbunds, die englische über die Jonischen Inseln, die europäische über die Moldau und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt werden.
III. Verwandt damit aber ermäszigt und veredelt durch die Rücksichten der Pietät ist das Verhältnisz des Mutter- stats zu den noch nicht ganz selbstmächtigen, aber bereits zu einer statenartigen Organisation erwachsenen Colonial- ländern. In den äuszern Beziehungen vorzüglich wird die Colonie, auch wenn sie im Innern wesentlich selbständig ge- worden ist, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen, und insofern eine relative Ueberordnung desselben aner- kennen. Dieses Verhältnisz einer relativen Selbständigkeit der Coloniestaten ist zuerst von England gegenüber von Ca- nada ausgebildet worden.
IV. Der Statenbund und die Personalunion2 setzen die volle Hoheit und Selbständigkeit der verbundenen Staten als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise, soweit das gemeinsame Schicksal der Verbindung es nöthig er- scheinen läszt. Die Einzelstaten sind hier wohl als Staten or- ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als eine unentwickelte Statengemeinschaft, die nur in einzelnen
2 Vgl. oben S. 308 und 311.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0575"n="557"/><fwplace="top"type="header">Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.</fw><lb/><hirendition="#g">staten</hi> oder ein <hirendition="#g">schutzherrlicher</hi> Stat gegenüber den<lb/>
schutzbedürftigen <hirendition="#g">Nebenstaten</hi>. Hier ist eine relative Selb-<lb/>
ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober-<lb/>
oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich<lb/>
deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich<lb/>
heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammen-<lb/>
gesetzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung ent-<lb/>
spricht aber noch eher die schutzherrliche als die Lehensform,<lb/>
obwohl auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleich-<lb/>
artiger Kräfte einen Sinn hat und einem freien Volke niemals<lb/>
zusagen wird. Die Napoleonische Protection des Rheinbunds,<lb/>
die englische über die Jonischen Inseln, die europäische<lb/>
über die Moldau und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt<lb/>
werden.</p><lb/><p>III. Verwandt damit aber ermäszigt und veredelt durch<lb/>
die Rücksichten der <hirendition="#g">Pietät</hi> ist das Verhältnisz des <hirendition="#g">Mutter-<lb/>
stats</hi> zu den noch nicht ganz selbstmächtigen, aber bereits<lb/>
zu einer statenartigen Organisation erwachsenen <hirendition="#g">Colonial-<lb/>
ländern</hi>. In den <hirendition="#g">äuszern</hi> Beziehungen vorzüglich wird die<lb/>
Colonie, auch wenn sie im <hirendition="#g">Innern</hi> wesentlich selbständig ge-<lb/>
worden ist, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen,<lb/>
und insofern eine relative <hirendition="#g">Ueberordnung</hi> desselben aner-<lb/>
kennen. Dieses Verhältnisz einer relativen Selbständigkeit<lb/>
der Coloniestaten ist zuerst von England gegenüber von Ca-<lb/>
nada ausgebildet worden.</p><lb/><p>IV. Der <hirendition="#g">Statenbund</hi> und die <hirendition="#g">Personalunion</hi><noteplace="foot"n="2">Vgl. oben S. 308 und 311.</note> setzen<lb/>
die volle Hoheit und Selbständigkeit der <hirendition="#g">verbundenen</hi> Staten<lb/>
als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise,<lb/>
soweit das gemeinsame Schicksal der Verbindung es nöthig er-<lb/>
scheinen läszt. Die Einzelstaten sind hier wohl als Staten or-<lb/>
ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als<lb/>
eine <hirendition="#g">unentwickelte</hi> Statengemeinschaft, die nur in einzelnen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[557/0575]
Vierundzwanzigstes Capitel. V. Zusammengesetzte Statsformen.
staten oder ein schutzherrlicher Stat gegenüber den
schutzbedürftigen Nebenstaten. Hier ist eine relative Selb-
ständigkeit der Vasallen- oder Schutzstaten auch dem Ober-
oder Schutzherrn gegenüber wohl möglich. Das römische Reich
deutscher Nation ist ein mittelalterliches, das osmanische Reich
heute noch ein Beispiel eines aus Vasallenstaten zusammen-
gesetzten Statskörpers. Der modernen Statenbildung ent-
spricht aber noch eher die schutzherrliche als die Lehensform,
obwohl auch sie nur unter der Voraussetzung sehr ungleich-
artiger Kräfte einen Sinn hat und einem freien Volke niemals
zusagen wird. Die Napoleonische Protection des Rheinbunds,
die englische über die Jonischen Inseln, die europäische
über die Moldau und Wallachei mögen als Beispiele erwähnt
werden.
III. Verwandt damit aber ermäszigt und veredelt durch
die Rücksichten der Pietät ist das Verhältnisz des Mutter-
stats zu den noch nicht ganz selbstmächtigen, aber bereits
zu einer statenartigen Organisation erwachsenen Colonial-
ländern. In den äuszern Beziehungen vorzüglich wird die
Colonie, auch wenn sie im Innern wesentlich selbständig ge-
worden ist, doch länger des Schutzes des Mutterstates bedürfen,
und insofern eine relative Ueberordnung desselben aner-
kennen. Dieses Verhältnisz einer relativen Selbständigkeit
der Coloniestaten ist zuerst von England gegenüber von Ca-
nada ausgebildet worden.
IV. Der Statenbund und die Personalunion 2 setzen
die volle Hoheit und Selbständigkeit der verbundenen Staten
als Regel voraus, aber beschränken dieselbe ausnahmsweise,
soweit das gemeinsame Schicksal der Verbindung es nöthig er-
scheinen läszt. Die Einzelstaten sind hier wohl als Staten or-
ganisirt, aber nicht ihre Verbindung. Diese erscheint nur als
eine unentwickelte Statengemeinschaft, die nur in einzelnen
2 Vgl. oben S. 308 und 311.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/575>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.