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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.
wesen anerkannt, ohne die Hülfe des Stats findet er weder
Sicherheit noch Freiheit. Der Barbare ist ein natürlicher
Feind, und die unterworfenen Feinde werden Sclaven, die aus-
geschlossen sind von der Statsgemeinschaft und deszhalb ver-
stoszen sind in einen herabgewürdigten, nicht mehr menschen-
würdigen Zustand.

Der hellenische Stat, wie der antike überhaupt, ist über-
mächtig
, weil er als allmächtig gilt. Er ist Alles in Allem:
der Bürger ist nur Etwas, weil er ein Glied des States ist.
Seine ganze Existenz ist vom Stat abhängig, dem Stat unter-
than. Wenn die Athener auch die Geistesfreiheit besaszen
und übten, so war das nur, weil der Athenische Stat die Frei-
heit überhaupt hoch schätzte, nicht weil er die Menschenrechte
anerkannte. Derselbe freieste Stat liesz Sokrates hinrichten,
und glaubte dabei sein Recht zu üben. Die Selbständigkeit
der Familie, die elterliche Erziehung, sogar die eheliche Treue
sind in keiner Weise sicher vor den Uebergriffen des Stats;
noch weniger ist es natürlich das Privatvermögen der Bürger.
In alle Dinge mischt sich der Stat, er weisz von keinen sitt-
lichen und von keinen rechtlichen Schranken seiner Macht.
Er verfügt über die Körper und sogar über die Talente seiner
Bürger. Er nöthigt zu den Aemtern wie zum Kriegsdienst.
Das Individuum soll erst im State unter- und aufgehen, dann
erst kann es durch den Stat wieder zu freiem und edlem
Leben gewissermaszen neu geboren werden. Die absolute Ge-
walt des States wird abgesehen von der Macht der alten Sitte
fast nur dadurch gemäszigt, theils dasz die Bürger selbst
einen Antheil an ihrer Ausübung haben, und aus Besorgnisz,
die Despotie des Demos könnte auch ihnen schädlich werden,
die äuszersten Consequenzen des statlichen Communismus ver-
meiden, theils dasz in den kleinen Verhältnissen die Leiden-
schaften nur geringe Mittel finden, über die sie verfügen
können, und genöthigt sind, auch die Nachbarn zu berücksich-
tigen. Die hellenischen Staten sind doch nur aus Bruch-

Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt.
wesen anerkannt, ohne die Hülfe des Stats findet er weder
Sicherheit noch Freiheit. Der Barbare ist ein natürlicher
Feind, und die unterworfenen Feinde werden Sclaven, die aus-
geschlossen sind von der Statsgemeinschaft und deszhalb ver-
stoszen sind in einen herabgewürdigten, nicht mehr menschen-
würdigen Zustand.

Der hellenische Stat, wie der antike überhaupt, ist über-
mächtig
, weil er als allmächtig gilt. Er ist Alles in Allem:
der Bürger ist nur Etwas, weil er ein Glied des States ist.
Seine ganze Existenz ist vom Stat abhängig, dem Stat unter-
than. Wenn die Athener auch die Geistesfreiheit besaszen
und übten, so war das nur, weil der Athenische Stat die Frei-
heit überhaupt hoch schätzte, nicht weil er die Menschenrechte
anerkannte. Derselbe freieste Stat liesz Sokrates hinrichten,
und glaubte dabei sein Recht zu üben. Die Selbständigkeit
der Familie, die elterliche Erziehung, sogar die eheliche Treue
sind in keiner Weise sicher vor den Uebergriffen des Stats;
noch weniger ist es natürlich das Privatvermögen der Bürger.
In alle Dinge mischt sich der Stat, er weisz von keinen sitt-
lichen und von keinen rechtlichen Schranken seiner Macht.
Er verfügt über die Körper und sogar über die Talente seiner
Bürger. Er nöthigt zu den Aemtern wie zum Kriegsdienst.
Das Individuum soll erst im State unter- und aufgehen, dann
erst kann es durch den Stat wieder zu freiem und edlem
Leben gewissermaszen neu geboren werden. Die absolute Ge-
walt des States wird abgesehen von der Macht der alten Sitte
fast nur dadurch gemäszigt, theils dasz die Bürger selbst
einen Antheil an ihrer Ausübung haben, und aus Besorgnisz,
die Despotie des Demos könnte auch ihnen schädlich werden,
die äuszersten Consequenzen des statlichen Communismus ver-
meiden, theils dasz in den kleinen Verhältnissen die Leiden-
schaften nur geringe Mittel finden, über die sie verfügen
können, und genöthigt sind, auch die Nachbarn zu berücksich-
tigen. Die hellenischen Staten sind doch nur aus Bruch-

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[39/0057] Drittes Capitel. Entwicklungsgeschichte der Statsidee. I. Die antike Welt. wesen anerkannt, ohne die Hülfe des Stats findet er weder Sicherheit noch Freiheit. Der Barbare ist ein natürlicher Feind, und die unterworfenen Feinde werden Sclaven, die aus- geschlossen sind von der Statsgemeinschaft und deszhalb ver- stoszen sind in einen herabgewürdigten, nicht mehr menschen- würdigen Zustand. Der hellenische Stat, wie der antike überhaupt, ist über- mächtig, weil er als allmächtig gilt. Er ist Alles in Allem: der Bürger ist nur Etwas, weil er ein Glied des States ist. Seine ganze Existenz ist vom Stat abhängig, dem Stat unter- than. Wenn die Athener auch die Geistesfreiheit besaszen und übten, so war das nur, weil der Athenische Stat die Frei- heit überhaupt hoch schätzte, nicht weil er die Menschenrechte anerkannte. Derselbe freieste Stat liesz Sokrates hinrichten, und glaubte dabei sein Recht zu üben. Die Selbständigkeit der Familie, die elterliche Erziehung, sogar die eheliche Treue sind in keiner Weise sicher vor den Uebergriffen des Stats; noch weniger ist es natürlich das Privatvermögen der Bürger. In alle Dinge mischt sich der Stat, er weisz von keinen sitt- lichen und von keinen rechtlichen Schranken seiner Macht. Er verfügt über die Körper und sogar über die Talente seiner Bürger. Er nöthigt zu den Aemtern wie zum Kriegsdienst. Das Individuum soll erst im State unter- und aufgehen, dann erst kann es durch den Stat wieder zu freiem und edlem Leben gewissermaszen neu geboren werden. Die absolute Ge- walt des States wird abgesehen von der Macht der alten Sitte fast nur dadurch gemäszigt, theils dasz die Bürger selbst einen Antheil an ihrer Ausübung haben, und aus Besorgnisz, die Despotie des Demos könnte auch ihnen schädlich werden, die äuszersten Consequenzen des statlichen Communismus ver- meiden, theils dasz in den kleinen Verhältnissen die Leiden- schaften nur geringe Mittel finden, über die sie verfügen können, und genöthigt sind, auch die Nachbarn zu berücksich- tigen. Die hellenischen Staten sind doch nur aus Bruch-

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/57>, abgerufen am 24.11.2024.