gebiete möglich, diese aber auch in einem gröszeren Volke und Lande anwendbar ist.
Die Griechen vorzüglich, in eine grosze Zahl kleiner Staten zersplittert, suchten und fanden in der demokratischen Statsform die Befriedigung ihrer politischen Anschauungsweise. Es ist nicht zu läugnen, selbst die alten königlichen Staten und die sogenannten Aristokratien der Griechen haben, wenn man sie mit der modernen Monarchie oder mit der römischen Aristokratie vergleicht, ein demokratisches Etwas an sich, wo- durch sie sich von diesen unterscheiden. Auch ist es beach- tenswerth, dasz die gröszten Denker unter den hellenischen Philosophen, obwohl sie die athenische absolute Demokratie keineswegs günstig beurtheilten, 1 doch das Ideal einer ge- mäszigten Demokratie festhielten und vorzugsweise diese Stats- form Politie nannten.
Für die Einsicht in die Natur der Demokratie ist kein Stat lehrreicher als der athenische. In der Verfassung Athens erlangte dieselbe ihren consequentesten Ausdruck. In einem Umfang wie nie seither wieder, übte das Volk dort selbst die Herrschaft aus. Fast alle wichtigeren Statsangelegenheiten wurden in der Volksversammlung (ekklesia) verhandelt, und diese trat so häufig, beinahe wöchentlich einmal, auf dem Markte öffentlich zusammen, wie es nur erklärbar wird, wenn man bedenkt, dasz die gewöhnlichen Berufsgeschäfte und Ar- beiten vorzüglich von den zahlreichen Sclaven, nicht von den freien Bürgern betrieben wurden.
In der Volksversammlung hatte der vielköpfige Demos eine sichtbare Darstellung gefunden. Sie war die Vereinigung aller ehrbaren athenischen Bürger, welche schon nach Voll- endung des zwanzigsten Altersjahres daselbst Zutritt und Stimmrecht erhielten. In ihr fühlten sich die Athener als die Herren des Stats, jeder Einzelne als ein Theil des
1 Darin stimmen Xenophon, Platon und Aristoteles zusammen.
Sechstes Buch. Die Statsformen.
gebiete möglich, diese aber auch in einem gröszeren Volke und Lande anwendbar ist.
Die Griechen vorzüglich, in eine grosze Zahl kleiner Staten zersplittert, suchten und fanden in der demokratischen Statsform die Befriedigung ihrer politischen Anschauungsweise. Es ist nicht zu läugnen, selbst die alten königlichen Staten und die sogenannten Aristokratien der Griechen haben, wenn man sie mit der modernen Monarchie oder mit der römischen Aristokratie vergleicht, ein demokratisches Etwas an sich, wo- durch sie sich von diesen unterscheiden. Auch ist es beach- tenswerth, dasz die gröszten Denker unter den hellenischen Philosophen, obwohl sie die athenische absolute Demokratie keineswegs günstig beurtheilten, 1 doch das Ideal einer ge- mäszigten Demokratie festhielten und vorzugsweise diese Stats- form Politie nannten.
Für die Einsicht in die Natur der Demokratie ist kein Stat lehrreicher als der athenische. In der Verfassung Athens erlangte dieselbe ihren consequentesten Ausdruck. In einem Umfang wie nie seither wieder, übte das Volk dort selbst die Herrschaft aus. Fast alle wichtigeren Statsangelegenheiten wurden in der Volksversammlung (ἐϰϰλησία) verhandelt, und diese trat so häufig, beinahe wöchentlich einmal, auf dem Markte öffentlich zusammen, wie es nur erklärbar wird, wenn man bedenkt, dasz die gewöhnlichen Berufsgeschäfte und Ar- beiten vorzüglich von den zahlreichen Sclaven, nicht von den freien Bürgern betrieben wurden.
In der Volksversammlung hatte der vielköpfige Demos eine sichtbare Darstellung gefunden. Sie war die Vereinigung aller ehrbaren athenischen Bürger, welche schon nach Voll- endung des zwanzigsten Altersjahres daselbst Zutritt und Stimmrecht erhielten. In ihr fühlten sich die Athener als die Herren des Stats, jeder Einzelne als ein Theil des
1 Darin stimmen Xenophon, Platon und Aristoteles zusammen.
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Sechstes Buch. Die Statsformen.
gebiete möglich, diese aber auch in einem gröszeren Volke
und Lande anwendbar ist.
Die Griechen vorzüglich, in eine grosze Zahl kleiner
Staten zersplittert, suchten und fanden in der demokratischen
Statsform die Befriedigung ihrer politischen Anschauungsweise.
Es ist nicht zu läugnen, selbst die alten königlichen Staten
und die sogenannten Aristokratien der Griechen haben, wenn
man sie mit der modernen Monarchie oder mit der römischen
Aristokratie vergleicht, ein demokratisches Etwas an sich, wo-
durch sie sich von diesen unterscheiden. Auch ist es beach-
tenswerth, dasz die gröszten Denker unter den hellenischen
Philosophen, obwohl sie die athenische absolute Demokratie
keineswegs günstig beurtheilten, 1 doch das Ideal einer ge-
mäszigten Demokratie festhielten und vorzugsweise diese Stats-
form Politie nannten.
Für die Einsicht in die Natur der Demokratie ist kein
Stat lehrreicher als der athenische. In der Verfassung Athens
erlangte dieselbe ihren consequentesten Ausdruck. In einem
Umfang wie nie seither wieder, übte das Volk dort selbst die
Herrschaft aus. Fast alle wichtigeren Statsangelegenheiten
wurden in der Volksversammlung (ἐϰϰλησία) verhandelt,
und diese trat so häufig, beinahe wöchentlich einmal, auf dem
Markte öffentlich zusammen, wie es nur erklärbar wird, wenn
man bedenkt, dasz die gewöhnlichen Berufsgeschäfte und Ar-
beiten vorzüglich von den zahlreichen Sclaven, nicht von den
freien Bürgern betrieben wurden.
In der Volksversammlung hatte der vielköpfige Demos
eine sichtbare Darstellung gefunden. Sie war die Vereinigung
aller ehrbaren athenischen Bürger, welche schon nach Voll-
endung des zwanzigsten Altersjahres daselbst Zutritt und
Stimmrecht erhielten. In ihr fühlten sich die Athener als
die Herren des Stats, jeder Einzelne als ein Theil des
1 Darin stimmen Xenophon, Platon und Aristoteles zusammen.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 526. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/544>, abgerufen am 23.11.2024.
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