die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin- dus in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng- lischen Statthalter4 sind beredte Zeugnisse für diesen Charakterzug.
Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder- lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen- schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt, die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen, voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con- serviren, und durchweg haben die Aristokratien einen längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver- meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor- wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na- türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird, im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.
Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche
4 Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.
Sechstes Buch. Die Statsformen.
die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin- dus in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng- lischen Statthalter4 sind beredte Zeugnisse für diesen Charakterzug.
Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder- lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen- schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt, die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen, voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con- serviren, und durchweg haben die Aristokratien einen längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver- meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor- wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na- türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird, im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.
Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche
4 Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0538"n="520"/><fwplace="top"type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/>
die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der <hirendition="#g">Hin-<lb/>
dus</hi> in Indien, der <hirendition="#g">Neger</hi> auf Jamaica durch die <hirendition="#g">eng-<lb/>
lischen Statthalter</hi><noteplace="foot"n="4">Vgl. <hirendition="#g">Tocqueville</hi> über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.</note> sind beredte Zeugnisse für diesen<lb/>
Charakterzug.</p><lb/><p>Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit<lb/>
gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist<lb/>
umgekehrt eine übertriebene <hirendition="#g">Zähigkeit</hi> und <hirendition="#g">Unveränder-<lb/>
lichkeit</hi> der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen-<lb/>
schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer<lb/>
Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt,<lb/>
die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen,<lb/>
voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth<lb/>
nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte<lb/>
anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre<lb/>
Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es<lb/>
meistens besser als die Demokratie, <hirendition="#g">sich selber zu con-<lb/>
serviren</hi>, und durchweg haben die Aristokratien einen<lb/><hirendition="#g">längeren Bestand</hi> gehabt als die Demokratien. Sie ver-<lb/>
meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen<lb/>
Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor-<lb/>
wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann<lb/>
zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine<lb/>
durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder<lb/>
eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na-<lb/>
türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird,<lb/>
im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.</p><lb/><p>Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart<lb/>
sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die<lb/><hirendition="#g">Erblichkeit</hi> zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen<lb/>
zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte<lb/>
des <hirendition="#g">Mittelalters</hi> anschaulich, welches überall in Europa<lb/>
einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[520/0538]
Sechstes Buch. Die Statsformen.
die Ausbeutung und die despotische Unterdrückung der Hin-
dus in Indien, der Neger auf Jamaica durch die eng-
lischen Statthalter 4 sind beredte Zeugnisse für diesen
Charakterzug.
Ist eine übermäszige Beweglichkeit und Veränderlichkeit
gewöhnlich mit der gebildeten Demokratie verbunden, so ist
umgekehrt eine übertriebene Zähigkeit und Unveränder-
lichkeit der herkömmlichen Verhältnisse eine häufige Eigen-
schaft der Aristokratie. Die Demokratie, im Vorgefühl ihrer
Macht, vergiszt leicht, indem sie diese schrankenlos ausübt,
die Bedingungen ihrer Erhaltung. Die Aristokratie dagegen,
voller Sorgen für ihre unverkümmerte Erhaltung, geräth
nicht selten in den Irrthum: indem sie sich starr an das Alte
anklammere und jede Neuerung abwehre, werde sie ihre
Herrschaft am besten sichern. In der That versteht sie es
meistens besser als die Demokratie, sich selber zu con-
serviren, und durchweg haben die Aristokratien einen
längeren Bestand gehabt als die Demokratien. Sie ver-
meidet die Statsexperimente, sie hat Scheu vor raschen
Sprüngen; in gemessenem Gang schreitet sie bedachtsam vor-
wärts, und entwickelt nur wenn wirkliche Gefahr droht, dann
zuweilen die Monarchie vorübergehend nachbildend, eine
durchgreifende Energie. Aber was im richtigen Masze wieder
eine gute Eigenschaft jener Statsform ist, und aus dem na-
türlichen Instinct der Selbsterhaltung entspringt, das wird,
im Unmasz geübt, zu einem tödtlichen Fehler.
Diese Neigung und Fähigkeit der Erhaltung offenbart
sich auch in der natürlichen Tendenz der Aristokratie, die
Erblichkeit zu einem Grundprincip der Statseinrichtungen
zu machen. Diese Tendenz wird besonders in der Geschichte
des Mittelalters anschaulich, welches überall in Europa
einen aristokratischen Charakter zeigt. Selbst das deutsche
4 Vgl. Tocqueville über die englische Aristokratie. Oeuvres, tom. VIII.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/538>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.