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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
und die Autorität des States erstreckt sich daher nicht weiter, als
die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinander-
bestehen und Zusammenleben der Menschen
es erfordern. Der
Stat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet miszbräuchlich
übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft auch hier durchzusetzen;
denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die
Seele des Individuums kann er nicht tödten.

2. Neuestens hat sich auch Laurent gegen die Idee des Welt-
stats erklärt (Histoire du droit des gens I. S. 39 f.). Seine Gründe sind
folgende:

a) Der Weltstat wäre Universalmonarchie und diese unverträg-
lich mit der Souveränetät der Staten.

b) Die Individuen als natürliche und die Völker als künstliche Per-
sonen sind verschieden. Jene sind in sich mangelhaft und werden von
bösen Leidenschaften bewegt, diese sind vollkommene und moralische
Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fort-
dauernde Wirksamkeit der Statsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht
oder nur ausnahmsweise.

c) Das Individuum ist schwach und musz sich der Statsgewalt unter-
werfen; die Staten aber sind stark und werden sich daher nicht unter
eine höhere Gewalt beugen lassen.

d) Wäre der Weltstaat so mächtig, um auch die Staten wider ihren
Willen zu beugen, so würde diese Uebermacht das Recht und die Frei-
heit unterdrücken, denn wo Widerstand unmöglich ist, da kann die
Freiheit nicht bestehen.

e) Der Volksstat ist nöthig für die Entwicklung der Individuen, aber
er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des Welt-
states nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich.

Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht
überzeugt. Dagegen ist zu erinnern:

Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze
(Kaiserthum), aber auch in republikanischer Form denken, sei es als
Directorium (ich erinnere an die europäische Pentarchie) oder als
Conföderation oder Union sämmtlicher Staten. Keinenfalls aber
braucht man sich eine absolute Macht der Weltregierung zu denken; und
der Fortbestand der Volksstaten macht geradezu eine Ausscheidung der
Competenzen zwischen ihnen und dem Weltreich nothwendig. Es ist
kein Grund den Bereich des letztern über die gemeinsamen Welt-
angelegenheiten
hinaus auszudehnen, wie insbesondere die Erhaltung
des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, überhaupt des Ge-
bietes, das wir heute Völkerrecht heiszen. Die Form des Bundes-
states
oder des Bundesreiches, in welchem für die gemeinsamen
Bundesangelegenheiten eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechts-
pflege besteht, und für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
und die Autorität des States erstreckt sich daher nicht weiter, als
die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinander-
bestehen und Zusammenleben der Menschen
es erfordern. Der
Stat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet miszbräuchlich
übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft auch hier durchzusetzen;
denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die
Seele des Individuums kann er nicht tödten.

2. Neuestens hat sich auch Laurent gegen die Idee des Welt-
stats erklärt (Histoire du droit des gens I. S. 39 f.). Seine Gründe sind
folgende:

a) Der Weltstat wäre Universalmonarchie und diese unverträg-
lich mit der Souveränetät der Staten.

b) Die Individuen als natürliche und die Völker als künstliche Per-
sonen sind verschieden. Jene sind in sich mangelhaft und werden von
bösen Leidenschaften bewegt, diese sind vollkommene und moralische
Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fort-
dauernde Wirksamkeit der Statsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht
oder nur ausnahmsweise.

c) Das Individuum ist schwach und musz sich der Statsgewalt unter-
werfen; die Staten aber sind stark und werden sich daher nicht unter
eine höhere Gewalt beugen lassen.

d) Wäre der Weltstaat so mächtig, um auch die Staten wider ihren
Willen zu beugen, so würde diese Uebermacht das Recht und die Frei-
heit unterdrücken, denn wo Widerstand unmöglich ist, da kann die
Freiheit nicht bestehen.

e) Der Volksstat ist nöthig für die Entwicklung der Individuen, aber
er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des Welt-
states nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich.

Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht
überzeugt. Dagegen ist zu erinnern:

Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze
(Kaiserthum), aber auch in republikanischer Form denken, sei es als
Directorium (ich erinnere an die europäische Pentarchie) oder als
Conföderation oder Union sämmtlicher Staten. Keinenfalls aber
braucht man sich eine absolute Macht der Weltregierung zu denken; und
der Fortbestand der Volksstaten macht geradezu eine Ausscheidung der
Competenzen zwischen ihnen und dem Weltreich nothwendig. Es ist
kein Grund den Bereich des letztern über die gemeinsamen Welt-
angelegenheiten
hinaus auszudehnen, wie insbesondere die Erhaltung
des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, überhaupt des Ge-
bietes, das wir heute Völkerrecht heiszen. Die Form des Bundes-
states
oder des Bundesreiches, in welchem für die gemeinsamen
Bundesangelegenheiten eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechts-
pflege besteht, und für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso

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[35/0053] Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. und die Autorität des States erstreckt sich daher nicht weiter, als die Interessen der Gemeinschaft und das Nebeneinander- bestehen und Zusammenleben der Menschen es erfordern. Der Stat hat selbst, wenn er in das freie individuelle Gebiet miszbräuchlich übergreift, die Macht nicht, seine Herrschaft auch hier durchzusetzen; denn den Geist des Individuums vermag er nicht zu fesseln, und die Seele des Individuums kann er nicht tödten. 2. Neuestens hat sich auch Laurent gegen die Idee des Welt- stats erklärt (Histoire du droit des gens I. S. 39 f.). Seine Gründe sind folgende: a) Der Weltstat wäre Universalmonarchie und diese unverträg- lich mit der Souveränetät der Staten. b) Die Individuen als natürliche und die Völker als künstliche Per- sonen sind verschieden. Jene sind in sich mangelhaft und werden von bösen Leidenschaften bewegt, diese sind vollkommene und moralische Wesen. Das Nebeneinanderbestehen jener erfordert daher die fort- dauernde Wirksamkeit der Statsgewalt, das Nebeneinander dieser nicht oder nur ausnahmsweise. c) Das Individuum ist schwach und musz sich der Statsgewalt unter- werfen; die Staten aber sind stark und werden sich daher nicht unter eine höhere Gewalt beugen lassen. d) Wäre der Weltstaat so mächtig, um auch die Staten wider ihren Willen zu beugen, so würde diese Uebermacht das Recht und die Frei- heit unterdrücken, denn wo Widerstand unmöglich ist, da kann die Freiheit nicht bestehen. e) Der Volksstat ist nöthig für die Entwicklung der Individuen, aber er genügt auch dafür. Die Förderung der Individuen bedarf des Welt- states nicht, und für die Entwicklung der Nationen wäre er gefährlich. Auch diese Gründe meines verehrten Freundes haben mich nicht überzeugt. Dagegen ist zu erinnern: Zu a) Man kann sich das Weltreich mit monarchischer Spitze (Kaiserthum), aber auch in republikanischer Form denken, sei es als Directorium (ich erinnere an die europäische Pentarchie) oder als Conföderation oder Union sämmtlicher Staten. Keinenfalls aber braucht man sich eine absolute Macht der Weltregierung zu denken; und der Fortbestand der Volksstaten macht geradezu eine Ausscheidung der Competenzen zwischen ihnen und dem Weltreich nothwendig. Es ist kein Grund den Bereich des letztern über die gemeinsamen Welt- angelegenheiten hinaus auszudehnen, wie insbesondere die Erhaltung des Weltfriedens und den Schutz des Weltverkehrs, überhaupt des Ge- bietes, das wir heute Völkerrecht heiszen. Die Form des Bundes- states oder des Bundesreiches, in welchem für die gemeinsamen Bundesangelegenheiten eine gemeinsame Gesetzgebung, Regierung, Rechts- pflege besteht, und für die besonderen Landesangelegenheiten ebenso

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/53>, abgerufen am 23.11.2024.