Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.Erstes Buch. Der Statsbegriff. wieder zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler desMittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende Centralgewalt; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf die Bahn zurück, welche die Römer zuvor begangen hatten, wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. Er wollte Europa zu einem groszen völkerrechtlichen Gesammt- stat organisiren, welcher sich nach Einzelstaten gliedere. Das Kaiserthum sollte der französischen Nation angehören, und diese in der groszen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen, wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er ver- mochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten dieselben dieszmal nicht an dem Widerstand der deutschen Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit trug, schien sie sich doch, an dem alten eigenen Reiche ver- zweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen, der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden groszen deutschen Staten, das aufstrebende Preuszen und das länder- und völkerreiche Oesterreich, jenes für seine Existenz besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Stat fühlend, suchten in wiederholten Kriegen die französische Uebermacht zu be- kämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Stats- manne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand Englands, in dem ein groszes historisches Nationalgefühl mit germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napo- leon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Russen wichen besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht. Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als sich das verbundene Europa wider sie wandte. Der Napoleonische Ge- danke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung, wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich bedroht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und Erstes Buch. Der Statsbegriff. wieder zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler desMittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende Centralgewalt; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf die Bahn zurück, welche die Römer zuvor begangen hatten, wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. Er wollte Europa zu einem groszen völkerrechtlichen Gesammt- stat organisiren, welcher sich nach Einzelstaten gliedere. Das Kaiserthum sollte der französischen Nation angehören, und diese in der groszen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen, wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er ver- mochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten dieselben dieszmal nicht an dem Widerstand der deutschen Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit trug, schien sie sich doch, an dem alten eigenen Reiche ver- zweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen, der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden groszen deutschen Staten, das aufstrebende Preuszen und das länder- und völkerreiche Oesterreich, jenes für seine Existenz besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Stat fühlend, suchten in wiederholten Kriegen die französische Uebermacht zu be- kämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Stats- manne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand Englands, in dem ein groszes historisches Nationalgefühl mit germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napo- leon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Russen wichen besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht. Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als sich das verbundene Europa wider sie wandte. Der Napoleonische Ge- danke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung, wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich bedroht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0050" n="32"/><fw place="top" type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/> wieder zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler des<lb/> Mittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende<lb/> Centralgewalt; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des<lb/> Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die<lb/> fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf<lb/> die Bahn zurück, welche die Römer zuvor begangen hatten,<lb/> wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. 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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
wieder zu beleben unternommen. Er vermied den Fehler des
Mittelalters und sorgte voraus für eine starke, durchgreifende
Centralgewalt; aber er bewahrte die wahren Fortschritte des
Mittelalters nicht mit der nöthigen Sorgfalt. Er achtete die
fremden Nationalitäten zu wenig, und trat insofern wieder auf
die Bahn zurück, welche die Römer zuvor begangen hatten,
wenn auch gemäszigter als sie vorschreitend. Er wollte
Europa zu einem groszen völkerrechtlichen Gesammt-
stat organisiren, welcher sich nach Einzelstaten gliedere. Das
Kaiserthum sollte der französischen Nation angehören, und
diese in der groszen Völkerfamilie die Stellung des Hauptes
einnehmen. In einem Menschenalter hoffte er zu erreichen,
wozu die Römer Jahrhunderte gebraucht hatten. Er ver-
mochte aber seine Plane nicht durchzuführen. Zwar scheiterten
dieselben dieszmal nicht an dem Widerstand der deutschen
Nation. Obwohl dieselbe unwillig die französische Oberhoheit
trug, schien sie sich doch, an dem alten eigenen Reiche ver-
zweifelnd, und unzufrieden mit den vaterländischen Zuständen,
der Napoleonischen Gestaltung zu fügen. Nur die beiden
groszen deutschen Staten, das aufstrebende Preuszen und das
länder- und völkerreiche Oesterreich, jenes für seine Existenz
besorgt, dieses sich selbst als kaiserlichen Stat fühlend, suchten
in wiederholten Kriegen die französische Uebermacht zu be-
kämpfen; aber auch sie wurden von dem überlegenen Stats-
manne und Feldherrn besiegt. Aber über den Widerstand
Englands, in dem ein groszes historisches Nationalgefühl mit
germanischen Freiheitsideen sich verbunden hatte, wurde Napo-
leon nicht Herr, und die noch halbbarbarischen Russen wichen
besiegt in ihre Steppen zurück, aber unterwarfen sich nicht.
Und die Franzosen hielten im Unglück nicht aus, als sich das
verbundene Europa wider sie wandte. Der Napoleonische Ge-
danke kam doch aus ähnlichen Gründen nicht zur Erfüllung,
wie zuvor der römische. Die übrigen Völker fühlten sich
bedroht von der Universalmonarchie, nicht gesichert und
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