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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
und sich von dem modernen Geiste des Volkskönigthums er-
füllen zu lassen; die Volksvertretung endlich konnte sich auch
nur allmählich der Grenzen ihrer Macht und der groszen
Unterschiede bewuszt werden zwischen dem englischen Par-
lamentarismus und der preuszischen Statsregierung. Aber
während der zähen und erbitterten Kämpfe zwischen Reform
und Reaction, Autorität und Volksfreiheit trieb die neue Ver-
fassung doch tiefere Wurzeln, und nach und nach fanden sich
alle Gegensätze in der Pflicht gegen den wachsenden deut-
schen Stat zusammen. Im Feuer des deutschen Krieges von
1866 wurden die harten Widersprüche geschmolzen und die
Einigung vollzogen.

7. Auch Oesterreich wurde von der Revolution des
Jahres 1848 unvorbereitet überfallen. Die einzelnen Völker,
welche bisher durch die habsburgische Dynastie zusammen-
gehalten waren, versuchten sich loszureiszen, und in dem
Centrum der Monarchie, in Wien, regierte eine Weile die
unerfahrene schwärmerische Jugend. Nur in der Armee, sonst
nirgends mehr war Einheit, in ihr auch der letzte Halt der
Monarchie. Die Siege der Armee aber verschafften den öster-
reichischen Statsmännern wieder die Möglichkeit, die Zügel
der Regierung zu ergreifen, und im Gedränge der innern und
äuszern Gefahren unternahmen sie den Aufbau eines neuen
enger verbundenen Gesammtstates. Durch die octroyirte Ver-
fassung vom 4. März 1849 wurde ein erster Versuch gewagt
einer Organisation des Reiches nach den Grundsätzen der
constitutionellen Monarchie. Aber die Schwierigkeiten, so
verschiedene Völker, die überdem noch auf verschiedenen
Culturstufen stehen, in Einer Reichsversammlung zu einigen,
schienen damals so unüberwindlich, und das Bedürfnisz nach
einer einheitlichen und dictatorischen Regierungsgewalt nach
der überwältigten Auflehnung Ungarns so stark, dasz es nicht
zur Ausführung jener Verfassung kam. Hatten zuvor die ver-
schiedenen österreichischen Staten ihre Einheit wesentlich in

Sechstes Buch. Die Statsformen.
und sich von dem modernen Geiste des Volkskönigthums er-
füllen zu lassen; die Volksvertretung endlich konnte sich auch
nur allmählich der Grenzen ihrer Macht und der groszen
Unterschiede bewuszt werden zwischen dem englischen Par-
lamentarismus und der preuszischen Statsregierung. Aber
während der zähen und erbitterten Kämpfe zwischen Reform
und Reaction, Autorität und Volksfreiheit trieb die neue Ver-
fassung doch tiefere Wurzeln, und nach und nach fanden sich
alle Gegensätze in der Pflicht gegen den wachsenden deut-
schen Stat zusammen. Im Feuer des deutschen Krieges von
1866 wurden die harten Widersprüche geschmolzen und die
Einigung vollzogen.

7. Auch Oesterreich wurde von der Revolution des
Jahres 1848 unvorbereitet überfallen. Die einzelnen Völker,
welche bisher durch die habsburgische Dynastie zusammen-
gehalten waren, versuchten sich loszureiszen, und in dem
Centrum der Monarchie, in Wien, regierte eine Weile die
unerfahrene schwärmerische Jugend. Nur in der Armee, sonst
nirgends mehr war Einheit, in ihr auch der letzte Halt der
Monarchie. Die Siege der Armee aber verschafften den öster-
reichischen Statsmännern wieder die Möglichkeit, die Zügel
der Regierung zu ergreifen, und im Gedränge der innern und
äuszern Gefahren unternahmen sie den Aufbau eines neuen
enger verbundenen Gesammtstates. Durch die octroyirte Ver-
fassung vom 4. März 1849 wurde ein erster Versuch gewagt
einer Organisation des Reiches nach den Grundsätzen der
constitutionellen Monarchie. Aber die Schwierigkeiten, so
verschiedene Völker, die überdem noch auf verschiedenen
Culturstufen stehen, in Einer Reichsversammlung zu einigen,
schienen damals so unüberwindlich, und das Bedürfnisz nach
einer einheitlichen und dictatorischen Regierungsgewalt nach
der überwältigten Auflehnung Ungarns so stark, dasz es nicht
zur Ausführung jener Verfassung kam. Hatten zuvor die ver-
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[478/0496] Sechstes Buch. Die Statsformen. und sich von dem modernen Geiste des Volkskönigthums er- füllen zu lassen; die Volksvertretung endlich konnte sich auch nur allmählich der Grenzen ihrer Macht und der groszen Unterschiede bewuszt werden zwischen dem englischen Par- lamentarismus und der preuszischen Statsregierung. Aber während der zähen und erbitterten Kämpfe zwischen Reform und Reaction, Autorität und Volksfreiheit trieb die neue Ver- fassung doch tiefere Wurzeln, und nach und nach fanden sich alle Gegensätze in der Pflicht gegen den wachsenden deut- schen Stat zusammen. Im Feuer des deutschen Krieges von 1866 wurden die harten Widersprüche geschmolzen und die Einigung vollzogen. 7. Auch Oesterreich wurde von der Revolution des Jahres 1848 unvorbereitet überfallen. Die einzelnen Völker, welche bisher durch die habsburgische Dynastie zusammen- gehalten waren, versuchten sich loszureiszen, und in dem Centrum der Monarchie, in Wien, regierte eine Weile die unerfahrene schwärmerische Jugend. Nur in der Armee, sonst nirgends mehr war Einheit, in ihr auch der letzte Halt der Monarchie. Die Siege der Armee aber verschafften den öster- reichischen Statsmännern wieder die Möglichkeit, die Zügel der Regierung zu ergreifen, und im Gedränge der innern und äuszern Gefahren unternahmen sie den Aufbau eines neuen enger verbundenen Gesammtstates. Durch die octroyirte Ver- fassung vom 4. März 1849 wurde ein erster Versuch gewagt einer Organisation des Reiches nach den Grundsätzen der constitutionellen Monarchie. Aber die Schwierigkeiten, so verschiedene Völker, die überdem noch auf verschiedenen Culturstufen stehen, in Einer Reichsversammlung zu einigen, schienen damals so unüberwindlich, und das Bedürfnisz nach einer einheitlichen und dictatorischen Regierungsgewalt nach der überwältigten Auflehnung Ungarns so stark, dasz es nicht zur Ausführung jener Verfassung kam. Hatten zuvor die ver- schiedenen österreichischen Staten ihre Einheit wesentlich in

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/496>, abgerufen am 24.11.2024.