Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist grosz ge- nug, um die Menschheit zu umfassen, und die andern Natio- nen in ihren Armen zu erdrücken. An dem Widerstand der jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische Weltstat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem Andrang erlegen.
Die Idee des Weltstates hat seither nie mehr so glänzend geleuchtet an dem politischen Horizont, aber sie ist doch nie mehr untergegangen. Das romanisch-germanische Mittelalter hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen gesucht, zu- erst in der fränkischen Monarchie, dann in dem römisch-deutschen Kaiserthum. In bescheideneren Verhältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnisz der Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es sollte nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich herge- stellt werden, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens gleichmäszig beherrsche. Der grosze für die Menschheit so folgenreiche Gegensatz von Stat und Kirche war inzwischen durch das Christenthum offenbar geworden. Der Stat ver- zichtete darauf, auch die Gewissen durch seine Gesetze zu beherrschen. Er erkannte an, dasz es neben ihm auch eine religiöse Gemeinschaft gebe, welche ein eigenes Lebensprincip und ebenfalls einen sichtbaren Körper habe, verschieden von seiner Existenz und wesentlich selbständig. Damit aber war eine Schranke gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herr- schaft zu üben. Er war genöthigt, das religiöse Leben der Leitung der Kirche zu überlassen. Er gelangte über sein Verhältnisz zur Kirche zwar nicht zu voller Klarheit, aber die Freiheit des religiösen Glaubens und die Verehrung Gottes war vor seiner Willkür gerettet, die Autorität des Christen- thums war nicht von ihm abhängig.
Sodann sollte das christliche Weltreich nicht mehr die verschiedenen Völker verschlingen und vernichten, sondern
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist grosz ge- nug, um die Menschheit zu umfassen, und die andern Natio- nen in ihren Armen zu erdrücken. An dem Widerstand der jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische Weltstat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem Andrang erlegen.
Die Idee des Weltstates hat seither nie mehr so glänzend geleuchtet an dem politischen Horizont, aber sie ist doch nie mehr untergegangen. Das romanisch-germanische Mittelalter hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen gesucht, zu- erst in der fränkischen Monarchie, dann in dem römisch-deutschen Kaiserthum. In bescheideneren Verhältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnisz der Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es sollte nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich herge- stellt werden, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens gleichmäszig beherrsche. Der grosze für die Menschheit so folgenreiche Gegensatz von Stat und Kirche war inzwischen durch das Christenthum offenbar geworden. Der Stat ver- zichtete darauf, auch die Gewissen durch seine Gesetze zu beherrschen. Er erkannte an, dasz es neben ihm auch eine religiöse Gemeinschaft gebe, welche ein eigenes Lebensprincip und ebenfalls einen sichtbaren Körper habe, verschieden von seiner Existenz und wesentlich selbständig. Damit aber war eine Schranke gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herr- schaft zu üben. Er war genöthigt, das religiöse Leben der Leitung der Kirche zu überlassen. Er gelangte über sein Verhältnisz zur Kirche zwar nicht zu voller Klarheit, aber die Freiheit des religiösen Glaubens und die Verehrung Gottes war vor seiner Willkür gerettet, die Autorität des Christen- thums war nicht von ihm abhängig.
Sodann sollte das christliche Weltreich nicht mehr die verschiedenen Völker verschlingen und vernichten, sondern
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Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Das war sein inneres Gebrechen. Keine Nation ist grosz ge-
nug, um die Menschheit zu umfassen, und die andern Natio-
nen in ihren Armen zu erdrücken. An dem Widerstand der
jugendlich-frischen germanischen Nation ist der römische
Weltstat gescheitert. Er vermochte die Deutschen nicht zu
bezwingen, und ist nach Jahrhunderte langen Kämpfen ihrem
Andrang erlegen.
Die Idee des Weltstates hat seither nie mehr so glänzend
geleuchtet an dem politischen Horizont, aber sie ist doch nie
mehr untergegangen. Das romanisch-germanische Mittelalter
hat sie wieder in seiner Weise zu verwirklichen gesucht, zu-
erst in der fränkischen Monarchie, dann in dem
römisch-deutschen Kaiserthum. In bescheideneren
Verhältnissen freilich, aber nicht ohne in der Erkenntnisz
der Wahrheit wichtige Fortschritte gemacht zu haben. Es
sollte nicht mehr Ein übermächtiges absolutes Reich herge-
stellt werden, welches alle Seiten des gemeinsamen Lebens
gleichmäszig beherrsche. Der grosze für die Menschheit so
folgenreiche Gegensatz von Stat und Kirche war inzwischen
durch das Christenthum offenbar geworden. Der Stat ver-
zichtete darauf, auch die Gewissen durch seine Gesetze zu
beherrschen. Er erkannte an, dasz es neben ihm auch eine
religiöse Gemeinschaft gebe, welche ein eigenes Lebensprincip
und ebenfalls einen sichtbaren Körper habe, verschieden von
seiner Existenz und wesentlich selbständig. Damit aber war
eine Schranke gezogen, welche ihn hinderte, allmächtige Herr-
schaft zu üben. Er war genöthigt, das religiöse Leben der
Leitung der Kirche zu überlassen. Er gelangte über sein
Verhältnisz zur Kirche zwar nicht zu voller Klarheit, aber
die Freiheit des religiösen Glaubens und die Verehrung Gottes
war vor seiner Willkür gerettet, die Autorität des Christen-
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/48>, abgerufen am 23.11.2024.
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