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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.

Die repräsentative Demokratie der ersten Revolution wurde
erneuert. In der Nationalversammlung, die durch leidenschaft-
liche Parteien zerklüftet in endlosen Debatten ihre Kräfte er-
folglos verpuffte, war die oberste Autorität und die Stellung
des Präsidenten vielfach gelähmt und beschränkt. Aber der
Instinct des Volkes wendete sich wiederum der Monarchie zu,
und wieder ward ein Napoleon zum Ueberwinder und Erben
der Demokratie, indem er persönlich die Gewalt ergriff und
sich dabei zugleich auf die Zustimmung der groszen Mehrheit
aller Bürger stützte.

Die Verfassung des neuen Kaiserreichs vom 16. Jenner
und 2. December 1852 erinnert mehr an die römische als an
die englische Statsform; wie denn überhaupt die Napoleonischen
Statsideen einen entschieden romanischen Charakter haben
und daher auch den romanischen Elementen im französischen
Geist vorzüglich einleuchten. 9 Der Hoheit und Macht des
französischen Volks wird als der Quelle aller Statsgewalt
volle Huldigung dargebracht, indem die Verfassung der Ab-
stimmung des Volkes unterworfen, von seinem Vertrauen der
gesetzgebende Körper abhängig gemacht, und selbst die kaiser-
liche Gewalt von seinem Willen abgeleitet wird. 10 Dem fran-
zösischen Volk bleibt auch der Kaiser verantwortlich. Die
Zuneigung der Massen zu dem Grundsatz demokratischer Gleich-
heit wird in dem allgemeinen Stimmrecht rücksichtslos geachtet.
Auf so breiter Unterlage erhebt sich dann die kaiserliche Macht-
fülle in dem Glanze der Majestät. Die Initiative der Gesetz-
gebung, die ganze Leitung der Politik, die Diplomatie, die
Armee sind in seiner Hand, das ganze Beamtenheer ist ganz
von ihm abhängig. Selbst die Mitglieder des Statsraths kann

9 Die Verfassung von 1852 war der
äuszeren Form nach ähnlich der
Napoleonischen Verfassung vom Jahr VIII (1801), aber sachlich war der
Unterschied grosz. Vgl. de Parieu Pol. S. 201.
10 Titel: "par la grace de Dieu et la volonte nationale Empereur des
Francais."
Sechstes Buch. Die Statsformen.

Die repräsentative Demokratie der ersten Revolution wurde
erneuert. In der Nationalversammlung, die durch leidenschaft-
liche Parteien zerklüftet in endlosen Debatten ihre Kräfte er-
folglos verpuffte, war die oberste Autorität und die Stellung
des Präsidenten vielfach gelähmt und beschränkt. Aber der
Instinct des Volkes wendete sich wiederum der Monarchie zu,
und wieder ward ein Napoleon zum Ueberwinder und Erben
der Demokratie, indem er persönlich die Gewalt ergriff und
sich dabei zugleich auf die Zustimmung der groszen Mehrheit
aller Bürger stützte.

Die Verfassung des neuen Kaiserreichs vom 16. Jenner
und 2. December 1852 erinnert mehr an die römische als an
die englische Statsform; wie denn überhaupt die Napoleonischen
Statsideen einen entschieden romanischen Charakter haben
und daher auch den romanischen Elementen im französischen
Geist vorzüglich einleuchten. 9 Der Hoheit und Macht des
französischen Volks wird als der Quelle aller Statsgewalt
volle Huldigung dargebracht, indem die Verfassung der Ab-
stimmung des Volkes unterworfen, von seinem Vertrauen der
gesetzgebende Körper abhängig gemacht, und selbst die kaiser-
liche Gewalt von seinem Willen abgeleitet wird. 10 Dem fran-
zösischen Volk bleibt auch der Kaiser verantwortlich. Die
Zuneigung der Massen zu dem Grundsatz demokratischer Gleich-
heit wird in dem allgemeinen Stimmrecht rücksichtslos geachtet.
Auf so breiter Unterlage erhebt sich dann die kaiserliche Macht-
fülle in dem Glanze der Majestät. Die Initiative der Gesetz-
gebung, die ganze Leitung der Politik, die Diplomatie, die
Armee sind in seiner Hand, das ganze Beamtenheer ist ganz
von ihm abhängig. Selbst die Mitglieder des Statsraths kann

9 Die Verfassung von 1852 war der
äuszeren Form nach ähnlich der
Napoleonischen Verfassung vom Jahr VIII (1801), aber sachlich war der
Unterschied grosz. Vgl. de Parieu Pol. S. 201.
10 Titel: „par la grâce de Dieu et la volonté nationale Empereur des
Français.“
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[458/0476] Sechstes Buch. Die Statsformen. Die repräsentative Demokratie der ersten Revolution wurde erneuert. In der Nationalversammlung, die durch leidenschaft- liche Parteien zerklüftet in endlosen Debatten ihre Kräfte er- folglos verpuffte, war die oberste Autorität und die Stellung des Präsidenten vielfach gelähmt und beschränkt. Aber der Instinct des Volkes wendete sich wiederum der Monarchie zu, und wieder ward ein Napoleon zum Ueberwinder und Erben der Demokratie, indem er persönlich die Gewalt ergriff und sich dabei zugleich auf die Zustimmung der groszen Mehrheit aller Bürger stützte. Die Verfassung des neuen Kaiserreichs vom 16. Jenner und 2. December 1852 erinnert mehr an die römische als an die englische Statsform; wie denn überhaupt die Napoleonischen Statsideen einen entschieden romanischen Charakter haben und daher auch den romanischen Elementen im französischen Geist vorzüglich einleuchten. 9 Der Hoheit und Macht des französischen Volks wird als der Quelle aller Statsgewalt volle Huldigung dargebracht, indem die Verfassung der Ab- stimmung des Volkes unterworfen, von seinem Vertrauen der gesetzgebende Körper abhängig gemacht, und selbst die kaiser- liche Gewalt von seinem Willen abgeleitet wird. 10 Dem fran- zösischen Volk bleibt auch der Kaiser verantwortlich. Die Zuneigung der Massen zu dem Grundsatz demokratischer Gleich- heit wird in dem allgemeinen Stimmrecht rücksichtslos geachtet. Auf so breiter Unterlage erhebt sich dann die kaiserliche Macht- fülle in dem Glanze der Majestät. Die Initiative der Gesetz- gebung, die ganze Leitung der Politik, die Diplomatie, die Armee sind in seiner Hand, das ganze Beamtenheer ist ganz von ihm abhängig. Selbst die Mitglieder des Statsraths kann 9 Die Verfassung von 1852 war der äuszeren Form nach ähnlich der Napoleonischen Verfassung vom Jahr VIII (1801), aber sachlich war der Unterschied grosz. Vgl. de Parieu Pol. S. 201. 10 Titel: „par la grâce de Dieu et la volonté nationale Empereur des Français.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/476>, abgerufen am 24.11.2024.