Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin, welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist, als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen versucht hat.
Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer Weise gewagt.
Zuerst Alexander der Grosze. In dem hundertpaa- rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt 1 ein Bild seiner Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und aus der Mischung beider "wie in einem Becher der Liebe" die neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich- menschliches Reich erfülle und in demselben ihre Befriedi- gung finde. Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt; und der griechische Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachs- thum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht blosz dem verhängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches den Gründer des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre wegraffte, bevor er noch die einheitlichen Institutionen be- festigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte, dasz dieser erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen, keinen Bestand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst war unklar.
Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver- wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State
1 "Rex terrarum omnium ac mundi." Justin. XII. 16. Laurent hist. du Droit des Gens II. 5. 262.
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin, welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist, als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen versucht hat.
Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer Weise gewagt.
Zuerst Alexander der Grosze. In dem hundertpaa- rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt 1 ein Bild seiner Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und aus der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe“ die neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich- menschliches Reich erfülle und in demselben ihre Befriedi- gung finde. Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt; und der griechische Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachs- thum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht blosz dem verhängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches den Gründer des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre wegraffte, bevor er noch die einheitlichen Institutionen be- festigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte, dasz dieser erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen, keinen Bestand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst war unklar.
Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver- wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State
1 „Rex terrarum omnium ac mundi.“ Justin. XII. 16. Laurent hist. du Droit des Gens II. 5. 262.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0046"n="28"/><fwplace="top"type="header">Erstes Buch. Der Statsbegriff.</fw><lb/><p>Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes<lb/>
zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin,<lb/>
welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den<lb/>
Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist,<lb/>
als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen<lb/>
versucht hat.</p><lb/><p>Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein<lb/>
vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer<lb/>
Weise gewagt.</p><lb/><p>Zuerst <hirendition="#g">Alexander der Grosze</hi>. In dem hundertpaa-<lb/>
rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt <noteplace="foot"n="1">„Rex terrarum omnium ac mundi.“<hirendition="#i">Justin</hi>. XII. 16. <hirendition="#i">Laurent</hi><lb/>
hist. du Droit des Gens II. 5. 262.</note> ein Bild seiner<lb/>
Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der<lb/>
weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident<lb/>
und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und<lb/>
aus der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe“<lb/>
die neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich-<lb/>
menschliches Reich erfülle und in demselben ihre Befriedi-<lb/>
gung finde. Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde<lb/>
allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt; und<lb/>
der griechische Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachs-<lb/>
thum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht<lb/>
blosz dem verhängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches<lb/>
den Gründer des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre<lb/>
wegraffte, bevor er noch die einheitlichen Institutionen be-<lb/>
festigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte,<lb/>
dasz dieser erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen,<lb/>
keinen Bestand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode<lb/>
Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war<lb/>
zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst<lb/>
war unklar.</p><lb/><p>Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver-<lb/>
wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[28/0046]
Erstes Buch. Der Statsbegriff.
Die Geschichte selbst, wenn wir sie nur freien Blickes
zu würdigen wissen, weist deutlich genug auf den Weg hin,
welcher zu diesem Ziele führt und warnt zugleich vor den
Irrgängen, in welche auch das politische Genie gerathen ist,
als es in kühnem Eifer den Weltstat zu früh zu verwirklichen
versucht hat.
Seitdem in Europa zuerst ein menschliches Bewusztsein
vom State erwacht ist, hat jede Periode den Versuch in ihrer
Weise gewagt.
Zuerst Alexander der Grosze. In dem hundertpaa-
rigen Ehefest zu Susa gab Alexander der Welt 1 ein Bild seiner
Idee. Er wollte den männlichen Geist der Hellenen mit der
weiblichen Sinnigkeit der Asiaten vermählen. Der Occident
und der Orient sollten sich verbinden und vermischen und
aus der Mischung beider „wie in einem Becher der Liebe“
die neue Menschheit hervorgehen, die Ein groszes göttlich-
menschliches Reich erfülle und in demselben ihre Befriedi-
gung finde. Die Cultur der folgenden Jahrhunderte wurde
allerdings durch Alexander in solcher Weise bestimmt; und
der griechische Saame der Bildung gedieh zu üppigem Wachs-
thum in dem eröffneten Boden Asiens. Aber es ist nicht
blosz dem verhängniszvollen Schicksal zuzuschreiben, welches
den Gründer des neuen Weltstates in der Blüthe der Jahre
wegraffte, bevor er noch die einheitlichen Institutionen be-
festigt und für die Nachfolge in der Herrschaft gesorgt hatte,
dasz dieser erste geniale Versuch, ein Weltreich herzustellen,
keinen Bestand gehabt hat und hoffnungslos mit dem Tode
Alexanders gescheitert ist. Die Mischung der Gegensätze war
zugleich eine Trübung der Wahrheit, die leitende Idee selbst
war unklar.
Die politischen Ideen wurden durch die Mischung ver-
wirrt. Die freie menschliche Ansicht der Hellenen vom State
1 „Rex terrarum omnium ac mundi.“ Justin. XII. 16. Laurent
hist. du Droit des Gens II. 5. 262.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/46>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.