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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Sechstes Buch. Die Statsformen.
Der Despotismus war nicht gemildert durch die Entfernung
und die Erhabenheit des Thrones, die Privilegien waren nicht
verschleiert unter der Majestät einer groszen Körperschaft.
Beide gehörten einem Individuum, das immer gegenwärtig
und immer allein, nur ein Nachbar seiner Unterthanen war."

In dieser Schilderung ist eine Wahrheit. Aber in vollem
Umfang gilt sie doch nur von Frankreich, nicht von allen
mittelalterlichen Lehensstaten. Das Lehenssystem war keines-
wegs überall verhaszt, wo es bestand, und die Anhänglich-
keit auch der Bauern an ihre Herren durchaus nicht selten.
Auch ist es nicht eine Eigenschaft dieses Systems, dasz dem
Herrn über seine Unterthanen eine "willkürliche und absolute
Gewalt" zustehe, sondern wo dieselbe behauptet und geübt
wurde -- und das mag nicht blosz in Frankreich sehr häufig,
sondern auch anderwärts nur zu oft vorgekommen sein --,
geschah das im Widerspruch mit dem System, welches von
oben bis unten lauter abgeleitete und in sich selbständige
Kreise von Rechten aufstellte. Auch die hörigen Leute hatten
ihr festes erbliches Recht; die Lasten derselben durften nicht
nach Belieben des Herrn vermehrt oder beschwert, über ihre
Person nicht anders als nach dem Herkommen und der guten
Gewohnheit der Höfe disponirt werden. Das Hofrecht in
den untersten Kreisen war eben so genau abgegrenzt und
wurde ganz analog geschützt, wie das Lehensrecht in den
höhern. 13

Aber auch abgesehen von den zahlreichen Ueberschrei-
tungen der Herrenrechte, lag allerdings in der Nähe und
Kleinheit der Herrschaften und in der groszen Schwie-
rigkeit, fast Unmöglichkeit für die Unterthanen, sich dem
nahen und jede freiere -- nicht schon durch das Her-
kommen geheiligte -- Bewegung hemmenden Drucke

13 Das bezeugen die Coutumes und Weisthümer auf jeder Seite. In
manchen derselben werden sogar Spuren eines bäuerlichen Trotzes der
Hofleute gegen den Grundherrn sichtbar.

Sechstes Buch. Die Statsformen.
Der Despotismus war nicht gemildert durch die Entfernung
und die Erhabenheit des Thrones, die Privilegien waren nicht
verschleiert unter der Majestät einer groszen Körperschaft.
Beide gehörten einem Individuum, das immer gegenwärtig
und immer allein, nur ein Nachbar seiner Unterthanen war.“

In dieser Schilderung ist eine Wahrheit. Aber in vollem
Umfang gilt sie doch nur von Frankreich, nicht von allen
mittelalterlichen Lehensstaten. Das Lehenssystem war keines-
wegs überall verhaszt, wo es bestand, und die Anhänglich-
keit auch der Bauern an ihre Herren durchaus nicht selten.
Auch ist es nicht eine Eigenschaft dieses Systems, dasz dem
Herrn über seine Unterthanen eine „willkürliche und absolute
Gewalt“ zustehe, sondern wo dieselbe behauptet und geübt
wurde — und das mag nicht blosz in Frankreich sehr häufig,
sondern auch anderwärts nur zu oft vorgekommen sein —,
geschah das im Widerspruch mit dem System, welches von
oben bis unten lauter abgeleitete und in sich selbständige
Kreise von Rechten aufstellte. Auch die hörigen Leute hatten
ihr festes erbliches Recht; die Lasten derselben durften nicht
nach Belieben des Herrn vermehrt oder beschwert, über ihre
Person nicht anders als nach dem Herkommen und der guten
Gewohnheit der Höfe disponirt werden. Das Hofrecht in
den untersten Kreisen war eben so genau abgegrenzt und
wurde ganz analog geschützt, wie das Lehensrecht in den
höhern. 13

Aber auch abgesehen von den zahlreichen Ueberschrei-
tungen der Herrenrechte, lag allerdings in der Nähe und
Kleinheit der Herrschaften und in der groszen Schwie-
rigkeit, fast Unmöglichkeit für die Unterthanen, sich dem
nahen und jede freiere — nicht schon durch das Her-
kommen geheiligte — Bewegung hemmenden Drucke

13 Das bezeugen die Coutumes und Weisthümer auf jeder Seite. In
manchen derselben werden sogar Spuren eines bäuerlichen Trotzes der
Hofleute gegen den Grundherrn sichtbar.
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[436/0454] Sechstes Buch. Die Statsformen. Der Despotismus war nicht gemildert durch die Entfernung und die Erhabenheit des Thrones, die Privilegien waren nicht verschleiert unter der Majestät einer groszen Körperschaft. Beide gehörten einem Individuum, das immer gegenwärtig und immer allein, nur ein Nachbar seiner Unterthanen war.“ In dieser Schilderung ist eine Wahrheit. Aber in vollem Umfang gilt sie doch nur von Frankreich, nicht von allen mittelalterlichen Lehensstaten. Das Lehenssystem war keines- wegs überall verhaszt, wo es bestand, und die Anhänglich- keit auch der Bauern an ihre Herren durchaus nicht selten. Auch ist es nicht eine Eigenschaft dieses Systems, dasz dem Herrn über seine Unterthanen eine „willkürliche und absolute Gewalt“ zustehe, sondern wo dieselbe behauptet und geübt wurde — und das mag nicht blosz in Frankreich sehr häufig, sondern auch anderwärts nur zu oft vorgekommen sein —, geschah das im Widerspruch mit dem System, welches von oben bis unten lauter abgeleitete und in sich selbständige Kreise von Rechten aufstellte. Auch die hörigen Leute hatten ihr festes erbliches Recht; die Lasten derselben durften nicht nach Belieben des Herrn vermehrt oder beschwert, über ihre Person nicht anders als nach dem Herkommen und der guten Gewohnheit der Höfe disponirt werden. Das Hofrecht in den untersten Kreisen war eben so genau abgegrenzt und wurde ganz analog geschützt, wie das Lehensrecht in den höhern. 13 Aber auch abgesehen von den zahlreichen Ueberschrei- tungen der Herrenrechte, lag allerdings in der Nähe und Kleinheit der Herrschaften und in der groszen Schwie- rigkeit, fast Unmöglichkeit für die Unterthanen, sich dem nahen und jede freiere — nicht schon durch das Her- kommen geheiligte — Bewegung hemmenden Drucke 13 Das bezeugen die Coutumes und Weisthümer auf jeder Seite. In manchen derselben werden sogar Spuren eines bäuerlichen Trotzes der Hofleute gegen den Grundherrn sichtbar.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/454>, abgerufen am 23.11.2024.