Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
Person, und in einem nicht-menschlich organisirten Körper
kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Stats-
körper
musz daher dem menschlichen Körper nachge-
bildet sein. Der vollkommene Stat ist also der körper-
lich sichtbaren Menschheit gleich
. Der Weltstat
oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden
Menschheit.

Der einzelne Mensch als Individuum, und die Mensch-
heit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden
Gegensätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde
der Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das
gemeinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in
träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es
ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein-
heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher
ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst
die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk-
lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi-
sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis-
herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden,
und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe
Ziel fester ins Auge.

Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den
Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber
daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses
Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff-
nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um-
fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich-
keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christliche
Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allgemeine
zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht
aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee der
universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des
universellen Weltreichs.


Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.
Person, und in einem nicht-menschlich organisirten Körper
kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Stats-
körper
musz daher dem menschlichen Körper nachge-
bildet sein. Der vollkommene Stat ist also der körper-
lich sichtbaren Menschheit gleich
. Der Weltstat
oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden
Menschheit.

Der einzelne Mensch als Individuum, und die Mensch-
heit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden
Gegensätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde
der Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das
gemeinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in
träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es
ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein-
heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher
ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst
die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk-
lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi-
sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis-
herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden,
und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe
Ziel fester ins Auge.

Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den
Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber
daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses
Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff-
nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um-
fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich-
keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christliche
Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allgemeine
zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht
aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee der
universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des
universellen Weltreichs.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0045" n="27"/><fw place="top" type="header">Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich.</fw><lb/>
Person, und in einem nicht-menschlich organisirten Körper<lb/>
kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der <hi rendition="#g">Stats-<lb/>
körper</hi> musz daher dem <hi rendition="#g">menschlichen Körper</hi> nachge-<lb/>
bildet sein. <hi rendition="#g">Der vollkommene Stat</hi> ist also der <hi rendition="#g">körper-<lb/>
lich sichtbaren Menschheit gleich</hi>. Der <hi rendition="#g">Weltstat</hi><lb/>
oder das <hi rendition="#g">Weltreich</hi> ist das Ideal der fortschreitenden<lb/>
Menschheit.</p><lb/>
          <p>Der einzelne Mensch als Individuum, und die Mensch-<lb/>
heit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden<lb/>
Gegensätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde<lb/>
der Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das<lb/>
gemeinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in<lb/>
träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es<lb/>
ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein-<lb/>
heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher<lb/>
ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst<lb/>
die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk-<lb/>
lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi-<lb/>
sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis-<lb/>
herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden,<lb/>
und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe<lb/>
Ziel fester ins Auge.</p><lb/>
          <p>Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den<lb/>
Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber<lb/>
daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses<lb/>
Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff-<lb/>
nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um-<lb/>
fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich-<lb/>
keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christliche<lb/>
Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine <hi rendition="#g">allgemeine</hi><lb/>
zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht<lb/>
aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee der<lb/>
universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des<lb/>
universellen Weltreichs.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0045] Zweites Capitel. Die menschliche Statsidee. Das Weltreich. Person, und in einem nicht-menschlich organisirten Körper kann der Menschengeist nicht wahrhaft leben. Der Stats- körper musz daher dem menschlichen Körper nachge- bildet sein. Der vollkommene Stat ist also der körper- lich sichtbaren Menschheit gleich. Der Weltstat oder das Weltreich ist das Ideal der fortschreitenden Menschheit. Der einzelne Mensch als Individuum, und die Mensch- heit als Ganzes, das sind die ursprünglichen und bleibenden Gegensätze der Schöpfung. Darauf beruht im letzten Grunde der Unterschied des Privatrechts und des Statsrechts. Das gemeinsame Bewusztsein der Menschheit ist freilich noch in träumerischem Zustande befangen und vielfältig verwirrt. Es ist noch nicht zu voller Klarheit erwacht, und nicht zur Ein- heit des Willens vorgeschritten. Die Menschheit hat daher ihr organisches Dasein auch noch nicht ausbilden können. Erst die späteren Jahrhunderte werden das Weltreich sich verwirk- lichen sehen. Aber die Sehnsucht nach einer solchen organi- sirten Lebensgemeinschaft aller Völker ist schon in der bis- herigen Weltgeschichte von Zeit zu Zeit offenbar geworden, und die civilisirte europäische Menschheit faszt bereits das hohe Ziel fester ins Auge. Es ist wahr, dasz alle geschichtlichen Versuche, den Weltstat zu verwirklichen, am Ende verunglückt sind. Aber daraus folgt für den Stat so wenig die Unerreichbarkeit dieses Ziels, als für die christliche Kirche, welche ebenso die Hoff- nung in sich trägt, dereinst die ganze Menschheit zu um- fassen, aus der bisherigen Nichterfüllung auf die Unmöglich- keit der Erfüllung geschlossen werden kann. Wie die christliche Kirche den Glauben nicht aufgeben kann, eine allgemeine zu werden, so kann die humane Politik das Streben nicht aufgeben, die ganze Menschheit zu organisiren. Der Idee der universellen Kirche entspricht in der Politik die Idee des universellen Weltreichs.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/45
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/45>, abgerufen am 24.11.2024.