manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen un- fehlbar auf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs. Der zweite Weg aber der innern Inspiration ist um so mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt, je weniger der Mensch die eigenen Geisteskräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit gegeben hat, je passiver er sich verhält und je leidenschaft- licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt.
Die unentbehrlichen menschlichen Organe der statlichen Willensbildung sowohl für die Gesetzgebung als für die Regierung sind also in der Theokratie sehr unvollkommen ausgebildet und durchaus unsicher.
4. Uebermacht des Priesterthums, das sich Gott näher glaubt, über die weltlichen Aemter. Wenn die Priester die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erscheint der theokratische Stat als offenbarer Priesterstat; wenn es neben ihm eine weltliche Obrigkeit gibt, so macht sich die priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend und es ist der Stat ein latenter Priesterstat.
Da aber in allem Priesterthume etwas Weibliches ist, so werden in dem Priesterstat die weiblichen Eigenschaften den männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen. Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.
5. Grausamkeit der Strafrechtspflege und Härte der Strafen. 15 In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.
6. Die ganze Erziehung der Jugend und des Volks bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den
15 Gute Bemerkung darüber bei Duncker a. a. O. II. S. 619.
Sechstes Buch. Die Statsformen.
manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen un- fehlbar auf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs. Der zweite Weg aber der innern Inspiration ist um so mehr der Selbsttäuschung ausgesetzt, je weniger der Mensch die eigenen Geisteskräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit gegeben hat, je passiver er sich verhält und je leidenschaft- licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt.
Die unentbehrlichen menschlichen Organe der statlichen Willensbildung sowohl für die Gesetzgebung als für die Regierung sind also in der Theokratie sehr unvollkommen ausgebildet und durchaus unsicher.
4. Uebermacht des Priesterthums, das sich Gott näher glaubt, über die weltlichen Aemter. Wenn die Priester die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erscheint der theokratische Stat als offenbarer Priesterstat; wenn es neben ihm eine weltliche Obrigkeit gibt, so macht sich die priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend und es ist der Stat ein latenter Priesterstat.
Da aber in allem Priesterthume etwas Weibliches ist, so werden in dem Priesterstat die weiblichen Eigenschaften den männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen. Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.
5. Grausamkeit der Strafrechtspflege und Härte der Strafen. 15 In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.
6. Die ganze Erziehung der Jugend und des Volks bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den
15 Gute Bemerkung darüber bei Duncker a. a. O. II. S. 619.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0416"n="398"/><fwplace="top"type="header">Sechstes Buch. Die Statsformen.</fw><lb/>
manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen un-<lb/>
fehlbar auf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs.<lb/>
Der zweite Weg aber der innern Inspiration ist um so mehr<lb/>
der Selbsttäuschung ausgesetzt, je weniger der Mensch die<lb/>
eigenen Geisteskräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit<lb/>
gegeben hat, je passiver er sich verhält und je leidenschaft-<lb/>
licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt.</p><lb/><p>Die unentbehrlichen menschlichen Organe der <hirendition="#g">statlichen<lb/>
Willensbildung</hi> sowohl für die Gesetzgebung als für die<lb/>
Regierung sind also in der Theokratie sehr unvollkommen<lb/>
ausgebildet und durchaus unsicher.</p><lb/><p>4. <hirendition="#g">Uebermacht des Priesterthums</hi>, das sich Gott<lb/>
näher glaubt, über die weltlichen Aemter. Wenn die Priester<lb/>
die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erscheint<lb/>
der theokratische Stat als <hirendition="#g">offenbarer</hi> Priesterstat; wenn es<lb/>
neben ihm eine weltliche Obrigkeit gibt, so macht sich die<lb/>
priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend<lb/>
und es ist der Stat ein <hirendition="#g">latenter</hi> Priesterstat.</p><lb/><p>Da aber in allem Priesterthume etwas Weibliches ist, so<lb/>
werden in dem Priesterstat die weiblichen Eigenschaften den<lb/>
männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die<lb/>
menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen.<lb/>
Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes<lb/>
sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.</p><lb/><p>5. <hirendition="#g">Grausamkeit</hi> der Strafrechtspflege und <hirendition="#g">Härte</hi> der<lb/>
Strafen. <noteplace="foot"n="15">Gute Bemerkung darüber bei <hirendition="#g">Duncker</hi> a. a. O. II. S. 619.</note> In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn<lb/>
Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes<lb/>
wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen<lb/>
wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.</p><lb/><p>6. Die ganze <hirendition="#g">Erziehung</hi> der Jugend und des Volks<lb/>
bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die<lb/>
Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[398/0416]
Sechstes Buch. Die Statsformen.
manen die Loose schüttle und werfe, diese Mittel führen un-
fehlbar auf die Irrwege des Aberglaubens und des Trugs.
Der zweite Weg aber der innern Inspiration ist um so mehr
der Selbsttäuschung ausgesetzt, je weniger der Mensch die
eigenen Geisteskräfte anstrengt, die Gott ihm zur Thätigkeit
gegeben hat, je passiver er sich verhält und je leidenschaft-
licher er sich der erwarteten göttlichen Strömung hingibt.
Die unentbehrlichen menschlichen Organe der statlichen
Willensbildung sowohl für die Gesetzgebung als für die
Regierung sind also in der Theokratie sehr unvollkommen
ausgebildet und durchaus unsicher.
4. Uebermacht des Priesterthums, das sich Gott
näher glaubt, über die weltlichen Aemter. Wenn die Priester
die obrigkeitlichen Rechte unmittelbar ausüben, so erscheint
der theokratische Stat als offenbarer Priesterstat; wenn es
neben ihm eine weltliche Obrigkeit gibt, so macht sich die
priesterliche Uebermacht gewöhnlich im Verborgenen geltend
und es ist der Stat ein latenter Priesterstat.
Da aber in allem Priesterthume etwas Weibliches ist, so
werden in dem Priesterstat die weiblichen Eigenschaften den
männlichen übergeordnet. Das männliche Selbstgefühl und die
menschliche Freiheit können nicht zur Entwicklung gelangen.
Die Zurücksetzung der Laien und die Hemmung ihres Geistes
sind von der Priesterherrschaft unzertrennlich.
5. Grausamkeit der Strafrechtspflege und Härte der
Strafen. 15 In der menschlichen Gerechtigkeit wird der Zorn
Gottes dargestellt; die freie Regung des individuellen Geistes
wird als Gottlosigkeit verurtheilt, auch ein geringes Vergehen
wie eine Beleidigung der göttlichen Majestät schwer geahndet.
6. Die ganze Erziehung der Jugend und des Volks
bleibt in den Händen der Priesterschaft. Die Schule und die
Bildung sind völlig dienstbar der kirchlichen Leitung und den
15 Gute Bemerkung darüber bei Duncker a. a. O. II. S. 619.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/416>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.