kratie, wie wir sie nennen, als die Willkürherrschaft der armen (wir können hinzusetzen und der rohen) Menge.
Es scheint, als habe Aristoteles bei dieser Eintheilung den Hauptnachdruck auf die Zahl der Personen gelegt, welche an jener herrschenden Gewalt Antheil haben, etwa wie nach dem Linne'schen Systeme die Zahl der Staubfäden die Arten der Pflanzen bestimmt. In der That, das wäre ein Wider- spruch gegen sein eigenes Grundprincip; denn dieses ist die Qualität, nicht die Quantität des herrschenden Organs. Aristoteles hat aber selbst schon 5 die Gefahr solchen Irrthums erkannt, und daher darauf aufmerksam gemacht, dasz die Ver- schiedenheit der Zahl mit einer Verschiedenheit des Charak- ters des Herrschenden in einem natürlichen Zusammenhange stehe, und im letzten Grunde immerhin mehr auf diesen als auf jene zu sehen sei. Aber er hat die Principien der Qua- lität noch nicht bestimmt genug ausgesprochen.
In einer andern Beziehung aber bedarf die Aristotelische Eintheilung einer Verbesserung. Sie ist nämlich unvoll- ständig, indem es eine Anzahl Staten in der Geschichte ge- geben hat, welche sich unter keine jener drei Grundformen einreihen lassen. Nach allen dreien gehört die oberste Macht im State Menschen zu, sei es einem Individuum, oder den Ausgezeichneten, oder dem Volke. Nun aber haben wir Staten gesehen, in denen keine menschliche Obrigkeit anerkannt, son- dern sei es Gott, oder ein Gott, oder ein anderer über- menschlicher Geist, oder eine Idee, als der wahre und eigentliche Herrscher verehrt wurde. Die Menschen, welche die Herrschaft verwalteten, galten dann nicht als Inhaber der-
und läszt die drei Ausartungen I. 45 entstehen, wenn "ex rege dominus, ex optimatibus factio, ex populo turba et confusio" werde.
5Aristot., Polit. I. 5, 7. Ich hatte das früher, durch die Dar- stellungen mancher Neueren verleitet, in meinen "Studien" übersehen und daher dem groszen Staatslehrer einen ungerechten Vorwurf gemacht. Sparta war Monarchie, obwohl zwei Könige zumal regierten. Venedig war Aristokratie, obwohl Ein Doge an der Spitze des States stand.
Erstes Capitel. Die Eintheilung des Aristoteles.
kratie, wie wir sie nennen, als die Willkürherrschaft der armen (wir können hinzusetzen und der rohen) Menge.
Es scheint, als habe Aristoteles bei dieser Eintheilung den Hauptnachdruck auf die Zahl der Personen gelegt, welche an jener herrschenden Gewalt Antheil haben, etwa wie nach dem Linné'schen Systeme die Zahl der Staubfäden die Arten der Pflanzen bestimmt. In der That, das wäre ein Wider- spruch gegen sein eigenes Grundprincip; denn dieses ist die Qualität, nicht die Quantität des herrschenden Organs. Aristoteles hat aber selbst schon 5 die Gefahr solchen Irrthums erkannt, und daher darauf aufmerksam gemacht, dasz die Ver- schiedenheit der Zahl mit einer Verschiedenheit des Charak- ters des Herrschenden in einem natürlichen Zusammenhange stehe, und im letzten Grunde immerhin mehr auf diesen als auf jene zu sehen sei. Aber er hat die Principien der Qua- lität noch nicht bestimmt genug ausgesprochen.
In einer andern Beziehung aber bedarf die Aristotelische Eintheilung einer Verbesserung. Sie ist nämlich unvoll- ständig, indem es eine Anzahl Staten in der Geschichte ge- geben hat, welche sich unter keine jener drei Grundformen einreihen lassen. Nach allen dreien gehört die oberste Macht im State Menschen zu, sei es einem Individuum, oder den Ausgezeichneten, oder dem Volke. Nun aber haben wir Staten gesehen, in denen keine menschliche Obrigkeit anerkannt, son- dern sei es Gott, oder ein Gott, oder ein anderer über- menschlicher Geist, oder eine Idee, als der wahre und eigentliche Herrscher verehrt wurde. Die Menschen, welche die Herrschaft verwalteten, galten dann nicht als Inhaber der-
und läszt die drei Ausartungen I. 45 entstehen, wenn „ex rege dominus, ex optimatibus factio, ex populo turba et confusio“ werde.
5Aristot., Polit. I. 5, 7. Ich hatte das früher, durch die Dar- stellungen mancher Neueren verleitet, in meinen „Studien“ übersehen und daher dem groszen Staatslehrer einen ungerechten Vorwurf gemacht. Sparta war Monarchie, obwohl zwei Könige zumal regierten. Venedig war Aristokratie, obwohl Ein Doge an der Spitze des States stand.
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Erstes Capitel. Die Eintheilung des Aristoteles.
kratie, wie wir sie nennen, als die Willkürherrschaft der
armen (wir können hinzusetzen und der rohen) Menge.
Es scheint, als habe Aristoteles bei dieser Eintheilung
den Hauptnachdruck auf die Zahl der Personen gelegt, welche
an jener herrschenden Gewalt Antheil haben, etwa wie nach
dem Linné'schen Systeme die Zahl der Staubfäden die Arten
der Pflanzen bestimmt. In der That, das wäre ein Wider-
spruch gegen sein eigenes Grundprincip; denn dieses ist die
Qualität, nicht die Quantität des herrschenden Organs.
Aristoteles hat aber selbst schon 5 die Gefahr solchen Irrthums
erkannt, und daher darauf aufmerksam gemacht, dasz die Ver-
schiedenheit der Zahl mit einer Verschiedenheit des Charak-
ters des Herrschenden in einem natürlichen Zusammenhange
stehe, und im letzten Grunde immerhin mehr auf diesen als
auf jene zu sehen sei. Aber er hat die Principien der Qua-
lität noch nicht bestimmt genug ausgesprochen.
In einer andern Beziehung aber bedarf die Aristotelische
Eintheilung einer Verbesserung. Sie ist nämlich unvoll-
ständig, indem es eine Anzahl Staten in der Geschichte ge-
geben hat, welche sich unter keine jener drei Grundformen
einreihen lassen. Nach allen dreien gehört die oberste Macht
im State Menschen zu, sei es einem Individuum, oder den
Ausgezeichneten, oder dem Volke. Nun aber haben wir Staten
gesehen, in denen keine menschliche Obrigkeit anerkannt, son-
dern sei es Gott, oder ein Gott, oder ein anderer über-
menschlicher Geist, oder eine Idee, als der wahre und
eigentliche Herrscher verehrt wurde. Die Menschen, welche
die Herrschaft verwalteten, galten dann nicht als Inhaber der-
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5 Aristot., Polit. I. 5, 7. Ich hatte das früher, durch die Dar-
stellungen mancher Neueren verleitet, in meinen „Studien“ übersehen
und daher dem groszen Staatslehrer einen ungerechten Vorwurf gemacht.
Sparta war Monarchie, obwohl zwei Könige zumal regierten. Venedig
war Aristokratie, obwohl Ein Doge an der Spitze des States stand.
4 und läszt die drei Ausartungen I. 45 entstehen, wenn „ex rege dominus,
ex optimatibus factio, ex populo turba et confusio“ werde.
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/389>, abgerufen am 22.11.2024.
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