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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Buch. Der Statszweck.
gesetzlich ordnen wollte, die der individuellen Freiheit an-
gehören. Als der Stat die Ketzerei als Verbrechen strafte,
überschritt er seine natürlichen Grenzen und griff ungebühr-
lich in die Privatfreiheit ein.

3) Die Herrschaft des Stats reicht nicht weiter, als
das Recht reicht; denn jede Herrschaft, welche zur Folge
zwingt, setzt eine rechtliche Begründung voraus. Das Recht
aber ist hinwieder begrenzt:

a) durch das Bedürfnisz des friedlichen Neben-
einanderbestehens der Personen
, beziehungsweise durch
die Erkenntnisz der nothwendigen gemeinsamen
Lebensbedingungen
(Privatrecht, Strafrecht);

b) durch die Existenz und Entwicklung des Volks,
welchem das Privatleben soweit untergeordnet ist, als die
Sicherheit und Wohlfahrt jener es erfordert (Steuerrecht, Mi-
litärpflicht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht überhaupt).

Soweit das Recht in Frage ist, soweit ist der Stat oberste
Autorität. Gesetzgebung und Rechtspflege sind ihrem Wesen
nach statlich.

4) Die Sorge und Pflege und daher die Einwirkung
des Stats reicht über das Gebiet der Rechtsordnung hinaus,
aber wesentlich nicht in zwingender Form, sondern zur Un-
terstützung
und Förderung wichtiger und verbreiteter
Lebenszwecke der Gesellschaft, wenn deren Mittel nicht aus-
reichen, und diese der mächtigen Statshülfe bedarf. (Wirth-
schaftspflege
und Culturpflege des Stats.) Die Sorge
des Stats für die Volkswohlfahrt erweitert sich hier zur Sorge
für die Wohlfahrt der Gesellschaft, wegen der Hülfs-
bedürftigkeit
dieser.



Fünftes Buch. Der Statszweck.
gesetzlich ordnen wollte, die der individuellen Freiheit an-
gehören. Als der Stat die Ketzerei als Verbrechen strafte,
überschritt er seine natürlichen Grenzen und griff ungebühr-
lich in die Privatfreiheit ein.

3) Die Herrschaft des Stats reicht nicht weiter, als
das Recht reicht; denn jede Herrschaft, welche zur Folge
zwingt, setzt eine rechtliche Begründung voraus. Das Recht
aber ist hinwieder begrenzt:

a) durch das Bedürfnisz des friedlichen Neben-
einanderbestehens der Personen
, beziehungsweise durch
die Erkenntnisz der nothwendigen gemeinsamen
Lebensbedingungen
(Privatrecht, Strafrecht);

b) durch die Existenz und Entwicklung des Volks,
welchem das Privatleben soweit untergeordnet ist, als die
Sicherheit und Wohlfahrt jener es erfordert (Steuerrecht, Mi-
litärpflicht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht überhaupt).

Soweit das Recht in Frage ist, soweit ist der Stat oberste
Autorität. Gesetzgebung und Rechtspflege sind ihrem Wesen
nach statlich.

4) Die Sorge und Pflege und daher die Einwirkung
des Stats reicht über das Gebiet der Rechtsordnung hinaus,
aber wesentlich nicht in zwingender Form, sondern zur Un-
terstützung
und Förderung wichtiger und verbreiteter
Lebenszwecke der Gesellschaft, wenn deren Mittel nicht aus-
reichen, und diese der mächtigen Statshülfe bedarf. (Wirth-
schaftspflege
und Culturpflege des Stats.) Die Sorge
des Stats für die Volkswohlfahrt erweitert sich hier zur Sorge
für die Wohlfahrt der Gesellschaft, wegen der Hülfs-
bedürftigkeit
dieser.



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[368/0386] Fünftes Buch. Der Statszweck. gesetzlich ordnen wollte, die der individuellen Freiheit an- gehören. Als der Stat die Ketzerei als Verbrechen strafte, überschritt er seine natürlichen Grenzen und griff ungebühr- lich in die Privatfreiheit ein. 3) Die Herrschaft des Stats reicht nicht weiter, als das Recht reicht; denn jede Herrschaft, welche zur Folge zwingt, setzt eine rechtliche Begründung voraus. Das Recht aber ist hinwieder begrenzt: a) durch das Bedürfnisz des friedlichen Neben- einanderbestehens der Personen, beziehungsweise durch die Erkenntnisz der nothwendigen gemeinsamen Lebensbedingungen (Privatrecht, Strafrecht); b) durch die Existenz und Entwicklung des Volks, welchem das Privatleben soweit untergeordnet ist, als die Sicherheit und Wohlfahrt jener es erfordert (Steuerrecht, Mi- litärpflicht, Verfassungs- und Verwaltungsrecht überhaupt). Soweit das Recht in Frage ist, soweit ist der Stat oberste Autorität. Gesetzgebung und Rechtspflege sind ihrem Wesen nach statlich. 4) Die Sorge und Pflege und daher die Einwirkung des Stats reicht über das Gebiet der Rechtsordnung hinaus, aber wesentlich nicht in zwingender Form, sondern zur Un- terstützung und Förderung wichtiger und verbreiteter Lebenszwecke der Gesellschaft, wenn deren Mittel nicht aus- reichen, und diese der mächtigen Statshülfe bedarf. (Wirth- schaftspflege und Culturpflege des Stats.) Die Sorge des Stats für die Volkswohlfahrt erweitert sich hier zur Sorge für die Wohlfahrt der Gesellschaft, wegen der Hülfs- bedürftigkeit dieser.

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/386>, abgerufen am 22.11.2024.