5) Wenn endlich das Nationalbewusztsein mit besonderer Stärke das Statsleben erfüllt, und die Offenbarung der nationalen Gemeinschaft und Einheit als Hauptzweck der Statenbildung erscheint, wie früher in Frankreich, in unserm Jahrhundert in dem Königreich Italien und in dem deutschen Reiche, so sprechen wir von Nationalstaten.
6) Zu dem eigentlichen und unmittelbaren Zweck des States, der sich auf das Volk selber beziehen musz, treten nun alle die mittelbaren Aufgaben des States hinzu, welche sich auf die Privatpersonen beziehen, und deren Lebens- zwecke fördern.
Hier besonders kommt es darauf an, die Grenzen der statlichen Thätigkeit scharf zu bestimmen.
Auch für die Privatpersonen kann die Lebensaufgabe be- zeichnet werden, Entfaltung der Individualität, Entwicklung ihrer Anlage, Offenbarung ihrer Eigenart und wieder in Har- monie mit den Lebenszwecken der Familie, der Nation und der Menschheit. Dieser Lebenszweck der Privatpersonen er- fordert und erfüllt die Privatfreiheit. Da kann es zunächst nur Aufgabe des States sein, diese Privatfreiheit gegen wider- rechtliche Angriffe zu schützen, aber der Stat darf sie nicht selber zurückhalten und drücken.
Der Stat musz sich hier voraus über die Grenzen seiner eigenen Natur klar werden:
1) Der Stat ist eine äuszere Ordnung des Gemein- lebens. Daher hat er nur Organe für die äuszerlich wahr- nehmbaren Dinge, nicht für das innere Geistesleben, das sich nicht in Worten oder Thaten offenbar gemacht hat. Es ist daher für den Stat schon deszhalb unmöglich, alle Le- benszwecke der Individuen zu umfassen, weil viele und ge- rade die bedeutensten Seiten des Individuallebens seiner Ein- sicht verborgen und seiner Macht unzugänglich sind. Die individuellen Gaben sind von dem State ganz unabhängig. Er kann dem Thoren keinen Verstand, dem Feigen keinen
Fünftes Buch. Der Statszweck.
5) Wenn endlich das Nationalbewusztsein mit besonderer Stärke das Statsleben erfüllt, und die Offenbarung der nationalen Gemeinschaft und Einheit als Hauptzweck der Statenbildung erscheint, wie früher in Frankreich, in unserm Jahrhundert in dem Königreich Italien und in dem deutschen Reiche, so sprechen wir von Nationalstaten.
6) Zu dem eigentlichen und unmittelbaren Zweck des States, der sich auf das Volk selber beziehen musz, treten nun alle die mittelbaren Aufgaben des States hinzu, welche sich auf die Privatpersonen beziehen, und deren Lebens- zwecke fördern.
Hier besonders kommt es darauf an, die Grenzen der statlichen Thätigkeit scharf zu bestimmen.
Auch für die Privatpersonen kann die Lebensaufgabe be- zeichnet werden, Entfaltung der Individualität, Entwicklung ihrer Anlage, Offenbarung ihrer Eigenart und wieder in Har- monie mit den Lebenszwecken der Familie, der Nation und der Menschheit. Dieser Lebenszweck der Privatpersonen er- fordert und erfüllt die Privatfreiheit. Da kann es zunächst nur Aufgabe des States sein, diese Privatfreiheit gegen wider- rechtliche Angriffe zu schützen, aber der Stat darf sie nicht selber zurückhalten und drücken.
Der Stat musz sich hier voraus über die Grenzen seiner eigenen Natur klar werden:
1) Der Stat ist eine äuszere Ordnung des Gemein- lebens. Daher hat er nur Organe für die äuszerlich wahr- nehmbaren Dinge, nicht für das innere Geistesleben, das sich nicht in Worten oder Thaten offenbar gemacht hat. Es ist daher für den Stat schon deszhalb unmöglich, alle Le- benszwecke der Individuen zu umfassen, weil viele und ge- rade die bedeutensten Seiten des Individuallebens seiner Ein- sicht verborgen und seiner Macht unzugänglich sind. Die individuellen Gaben sind von dem State ganz unabhängig. Er kann dem Thoren keinen Verstand, dem Feigen keinen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0384"n="366"/><fwplace="top"type="header">Fünftes Buch. Der Statszweck.</fw><lb/><p>5) Wenn endlich das Nationalbewusztsein mit besonderer<lb/>
Stärke das Statsleben erfüllt, und die <hirendition="#g">Offenbarung der<lb/>
nationalen Gemeinschaft und Einheit</hi> als Hauptzweck<lb/>
der Statenbildung erscheint, wie früher in Frankreich, in<lb/>
unserm Jahrhundert in dem Königreich Italien und in dem<lb/>
deutschen Reiche, so sprechen wir von <hirendition="#g">Nationalstaten</hi>.</p><lb/><p>6) Zu dem eigentlichen und unmittelbaren Zweck des<lb/>
States, der sich auf das Volk selber beziehen musz, treten<lb/>
nun alle die <hirendition="#g">mittelbaren</hi> Aufgaben des States hinzu, welche<lb/>
sich auf die <hirendition="#g">Privatpersonen</hi> beziehen, und deren Lebens-<lb/>
zwecke fördern.</p><lb/><p>Hier besonders kommt es darauf an, die <hirendition="#g">Grenzen</hi> der<lb/>
statlichen Thätigkeit scharf zu bestimmen.</p><lb/><p>Auch für die Privatpersonen kann die Lebensaufgabe be-<lb/>
zeichnet werden, Entfaltung der Individualität, Entwicklung<lb/>
ihrer Anlage, Offenbarung ihrer Eigenart und wieder in Har-<lb/>
monie mit den Lebenszwecken der Familie, der Nation und<lb/>
der Menschheit. Dieser Lebenszweck der Privatpersonen er-<lb/>
fordert und erfüllt die <hirendition="#g">Privatfreiheit</hi>. Da kann es zunächst<lb/>
nur Aufgabe des States sein, diese Privatfreiheit gegen wider-<lb/>
rechtliche Angriffe zu schützen, aber der Stat darf sie nicht<lb/>
selber zurückhalten und drücken.</p><lb/><p>Der Stat musz sich hier voraus über die Grenzen seiner<lb/>
eigenen Natur klar werden:</p><lb/><p>1) Der Stat ist eine <hirendition="#g">äuszere Ordnung</hi> des Gemein-<lb/>
lebens. Daher hat er nur Organe für die <hirendition="#g">äuszerlich wahr-<lb/>
nehmbaren Dinge</hi>, nicht für das innere Geistesleben, das<lb/>
sich nicht in Worten oder Thaten offenbar gemacht hat. Es<lb/>
ist daher für den Stat schon deszhalb unmöglich, <hirendition="#g">alle</hi> Le-<lb/>
benszwecke der Individuen zu umfassen, weil viele und ge-<lb/>
rade die bedeutensten Seiten des Individuallebens seiner Ein-<lb/>
sicht verborgen und seiner Macht unzugänglich sind. Die<lb/><hirendition="#g">individuellen Gaben</hi> sind von dem State ganz unabhängig.<lb/>
Er kann dem Thoren keinen Verstand, dem Feigen keinen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[366/0384]
Fünftes Buch. Der Statszweck.
5) Wenn endlich das Nationalbewusztsein mit besonderer
Stärke das Statsleben erfüllt, und die Offenbarung der
nationalen Gemeinschaft und Einheit als Hauptzweck
der Statenbildung erscheint, wie früher in Frankreich, in
unserm Jahrhundert in dem Königreich Italien und in dem
deutschen Reiche, so sprechen wir von Nationalstaten.
6) Zu dem eigentlichen und unmittelbaren Zweck des
States, der sich auf das Volk selber beziehen musz, treten
nun alle die mittelbaren Aufgaben des States hinzu, welche
sich auf die Privatpersonen beziehen, und deren Lebens-
zwecke fördern.
Hier besonders kommt es darauf an, die Grenzen der
statlichen Thätigkeit scharf zu bestimmen.
Auch für die Privatpersonen kann die Lebensaufgabe be-
zeichnet werden, Entfaltung der Individualität, Entwicklung
ihrer Anlage, Offenbarung ihrer Eigenart und wieder in Har-
monie mit den Lebenszwecken der Familie, der Nation und
der Menschheit. Dieser Lebenszweck der Privatpersonen er-
fordert und erfüllt die Privatfreiheit. Da kann es zunächst
nur Aufgabe des States sein, diese Privatfreiheit gegen wider-
rechtliche Angriffe zu schützen, aber der Stat darf sie nicht
selber zurückhalten und drücken.
Der Stat musz sich hier voraus über die Grenzen seiner
eigenen Natur klar werden:
1) Der Stat ist eine äuszere Ordnung des Gemein-
lebens. Daher hat er nur Organe für die äuszerlich wahr-
nehmbaren Dinge, nicht für das innere Geistesleben, das
sich nicht in Worten oder Thaten offenbar gemacht hat. Es
ist daher für den Stat schon deszhalb unmöglich, alle Le-
benszwecke der Individuen zu umfassen, weil viele und ge-
rade die bedeutensten Seiten des Individuallebens seiner Ein-
sicht verborgen und seiner Macht unzugänglich sind. Die
individuellen Gaben sind von dem State ganz unabhängig.
Er kann dem Thoren keinen Verstand, dem Feigen keinen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/384>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.