wenn jene Vorstellung des "Rechtsstats" maszgebend wäre. Das Volk hat auch wichtige Culturinteressen, für welche die Statssorge unentbehrlich ist. Es bedarf der Volksschulen, der wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen Schulen, die nicht der zufälligen Privatwillkür und nicht der berech- nenden Kirchenautorität überlassen werden darf, welche der Stat unter ihre Herrschaft zu bringen sucht. Wenn diese In- teressen im Mittelalter vernachlässigt worden sind, so erklärt sich das groszentheils aus dem engen Begriff des mittelalter- lichen Rechtsstats.
Das Volk ist überdem ein politisches Wesen, welches berufen ist, seinen Charakter zu bewähren und seinen Geist in der Welt zu offenbaren, und zwar nicht blosz in der Ge- setzgebung und Rechtspflege für die Rechtssicherheit der Pri- vaten, sondern in höherem Masze in der politischen Regie- rung und Entfaltung seiner Freiheit.
Jene ungenügende Zweckbestimmung hat, wo sie in der Praxis wirksam wird, zur Folge:
a) die Vernachlässigung der wirthschaftlichen Gemein- interessen;
b) die Vernachlässigung der gemeinsamen Culturinter- essen;
c) die Lähmung und Ertödtung des politischen Geistes in dem Volke, und daher auch die Schwächung der Stats- macht;
d) die Begünstigung einer kleinlichen, engherzigen und kurzsichtigen Juristerei und Rechthaberei, und in Folge da- von einer die Statsautorität lähmenden Streitsucht.
2. Eine andere ebenfalls oft behauptete Meinung, die "allgemeine Glückseligkeit" sei der wahre Statszweck, leidet an dem entgegengesetzten Fehler. Sie ist zu weit gefaszt. Die Glückseligkeit der Menschen ist groszentheils von dem State unabhängig und keineswegs dem State zu ver- danken. Selbst die meisten materiellen Güter, welche die
Fünftes Buch. Der Statszweck.
wenn jene Vorstellung des „Rechtsstats“ maszgebend wäre. Das Volk hat auch wichtige Culturinteressen, für welche die Statssorge unentbehrlich ist. Es bedarf der Volksschulen, der wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen Schulen, die nicht der zufälligen Privatwillkür und nicht der berech- nenden Kirchenautorität überlassen werden darf, welche der Stat unter ihre Herrschaft zu bringen sucht. Wenn diese In- teressen im Mittelalter vernachlässigt worden sind, so erklärt sich das groszentheils aus dem engen Begriff des mittelalter- lichen Rechtsstats.
Das Volk ist überdem ein politisches Wesen, welches berufen ist, seinen Charakter zu bewähren und seinen Geist in der Welt zu offenbaren, und zwar nicht blosz in der Ge- setzgebung und Rechtspflege für die Rechtssicherheit der Pri- vaten, sondern in höherem Masze in der politischen Regie- rung und Entfaltung seiner Freiheit.
Jene ungenügende Zweckbestimmung hat, wo sie in der Praxis wirksam wird, zur Folge:
a) die Vernachlässigung der wirthschaftlichen Gemein- interessen;
b) die Vernachlässigung der gemeinsamen Culturinter- essen;
c) die Lähmung und Ertödtung des politischen Geistes in dem Volke, und daher auch die Schwächung der Stats- macht;
d) die Begünstigung einer kleinlichen, engherzigen und kurzsichtigen Juristerei und Rechthaberei, und in Folge da- von einer die Statsautorität lähmenden Streitsucht.
2. Eine andere ebenfalls oft behauptete Meinung, die „allgemeine Glückseligkeit“ sei der wahre Statszweck, leidet an dem entgegengesetzten Fehler. Sie ist zu weit gefaszt. Die Glückseligkeit der Menschen ist groszentheils von dem State unabhängig und keineswegs dem State zu ver- danken. Selbst die meisten materiellen Güter, welche die
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Fünftes Buch. Der Statszweck.
wenn jene Vorstellung des „Rechtsstats“ maszgebend wäre.
Das Volk hat auch wichtige Culturinteressen, für welche
die Statssorge unentbehrlich ist. Es bedarf der Volksschulen,
der wissenschaftlichen, künstlerischen, technischen Schulen,
die nicht der zufälligen Privatwillkür und nicht der berech-
nenden Kirchenautorität überlassen werden darf, welche der
Stat unter ihre Herrschaft zu bringen sucht. Wenn diese In-
teressen im Mittelalter vernachlässigt worden sind, so erklärt
sich das groszentheils aus dem engen Begriff des mittelalter-
lichen Rechtsstats.
Das Volk ist überdem ein politisches Wesen, welches
berufen ist, seinen Charakter zu bewähren und seinen Geist
in der Welt zu offenbaren, und zwar nicht blosz in der Ge-
setzgebung und Rechtspflege für die Rechtssicherheit der Pri-
vaten, sondern in höherem Masze in der politischen Regie-
rung und Entfaltung seiner Freiheit.
Jene ungenügende Zweckbestimmung hat, wo sie in der
Praxis wirksam wird, zur Folge:
a) die Vernachlässigung der wirthschaftlichen Gemein-
interessen;
b) die Vernachlässigung der gemeinsamen Culturinter-
essen;
c) die Lähmung und Ertödtung des politischen Geistes
in dem Volke, und daher auch die Schwächung der Stats-
macht;
d) die Begünstigung einer kleinlichen, engherzigen und
kurzsichtigen Juristerei und Rechthaberei, und in Folge da-
von einer die Statsautorität lähmenden Streitsucht.
2. Eine andere ebenfalls oft behauptete Meinung, die
„allgemeine Glückseligkeit“ sei der wahre Statszweck,
leidet an dem entgegengesetzten Fehler. Sie ist zu weit
gefaszt. Die Glückseligkeit der Menschen ist groszentheils
von dem State unabhängig und keineswegs dem State zu ver-
danken. Selbst die meisten materiellen Güter, welche die
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/374>, abgerufen am 25.11.2024.
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