Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
Fünftes Buch. Der Statszweck.
Drittes Capitel.
Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des
Statszwecks.

1. Seit Kant und Fichte wurde die Meinung in
Deutschland eine Zeit lang herrschend, der wahre Statszweck
sei lediglich die Rechtssicherheit. Dabei dachte man
vorzugsweise oder gar ausschlieszlich an das Recht der Einzel-
menschen, der Privaten.

Kant hatte ausdrücklich erklärt (Rechtslehre §. 47-49):
"Nicht das Wohl der Statsbürger und ihre Glückseligkeit,
sondern der Zustand der Uebereinstimmung der Verfassung
mit Rechtsprincipien ist das Heil (Ziel) des Stats." Fichte
(Naturrecht in den Werken III. 152): "Die Sicherheit der
Rechte Aller ist der alleinige gemeinsame Wille", d. h. Stats-
wille. Von dieser Kant'schen Ansicht aus hat Wilhelm von
Humboldt
die "Grenzen der Wirksamkeit des Stats" sehr
enge bestimmt. Er erklärt: "Die Erhaltung der Sicherheit
sowohl gegen auswärtige Feinde, als gegen innerliche Zwi-
stigkeiten" ist der Zweck des States. Aber noch in unserem
nationalen Zeitalter behauptete Eötvös (Moderne Ideen II.
S. 91): "Der Zweck des States ist die Sicherheit der Ein-
zelnen."

Diese Meinung ist in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts aufgekommen. Man suchte damals nach einer
grundsätzlichen Beschränkung jener wohlwollenden aber über-
aus lästigen und die Freiheit des Privatlebens drückenden
Vielregiererei des aufgeklärten Absolutismus jener Zeit, wel-
cher jede Einmischung in das Familienleben, die Berufsfrei-
heit, die Vermögensverwaltung der Privaten mit der Sorge für
die allgemeine Wohlfahrt zu begründen und zu rechtfertigen
pflegte. Man meinte in der Bestimmung des Statszwecks als
Rechtssicherheit das Mittel gefunden zu haben, um jener Viel-

Fünftes Buch. Der Statszweck.
Drittes Capitel.
Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des
Statszwecks.

1. Seit Kant und Fichte wurde die Meinung in
Deutschland eine Zeit lang herrschend, der wahre Statszweck
sei lediglich die Rechtssicherheit. Dabei dachte man
vorzugsweise oder gar ausschlieszlich an das Recht der Einzel-
menschen, der Privaten.

Kant hatte ausdrücklich erklärt (Rechtslehre §. 47-49):
„Nicht das Wohl der Statsbürger und ihre Glückseligkeit,
sondern der Zustand der Uebereinstimmung der Verfassung
mit Rechtsprincipien ist das Heil (Ziel) des Stats.“ Fichte
(Naturrecht in den Werken III. 152): „Die Sicherheit der
Rechte Aller ist der alleinige gemeinsame Wille“, d. h. Stats-
wille. Von dieser Kant'schen Ansicht aus hat Wilhelm von
Humboldt
die „Grenzen der Wirksamkeit des Stats“ sehr
enge bestimmt. Er erklärt: „Die Erhaltung der Sicherheit
sowohl gegen auswärtige Feinde, als gegen innerliche Zwi-
stigkeiten“ ist der Zweck des States. Aber noch in unserem
nationalen Zeitalter behauptete Eötvös (Moderne Ideen II.
S. 91): „Der Zweck des States ist die Sicherheit der Ein-
zelnen.“

Diese Meinung ist in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts aufgekommen. Man suchte damals nach einer
grundsätzlichen Beschränkung jener wohlwollenden aber über-
aus lästigen und die Freiheit des Privatlebens drückenden
Vielregiererei des aufgeklärten Absolutismus jener Zeit, wel-
cher jede Einmischung in das Familienleben, die Berufsfrei-
heit, die Vermögensverwaltung der Privaten mit der Sorge für
die allgemeine Wohlfahrt zu begründen und zu rechtfertigen
pflegte. Man meinte in der Bestimmung des Statszwecks als
Rechtssicherheit das Mittel gefunden zu haben, um jener Viel-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0372" n="354"/>
        <fw place="top" type="header">Fünftes Buch. Der Statszweck.</fw><lb/>
        <div n="2">
          <head>Drittes Capitel.<lb/><hi rendition="#b">Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des<lb/>
Statszwecks.</hi></head><lb/>
          <p>1. Seit <hi rendition="#g">Kant</hi> und <hi rendition="#g">Fichte</hi> wurde die Meinung in<lb/>
Deutschland eine Zeit lang herrschend, der wahre Statszweck<lb/>
sei lediglich die <hi rendition="#g">Rechtssicherheit</hi>. Dabei dachte man<lb/>
vorzugsweise oder gar ausschlieszlich an das Recht der Einzel-<lb/>
menschen, der Privaten.</p><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Kant</hi> hatte ausdrücklich erklärt (Rechtslehre §. 47-49):<lb/>
&#x201E;Nicht das Wohl der Statsbürger und ihre Glückseligkeit,<lb/>
sondern der Zustand der Uebereinstimmung der Verfassung<lb/>
mit Rechtsprincipien ist das Heil (Ziel) des Stats.&#x201C; <hi rendition="#g">Fichte</hi><lb/>
(Naturrecht in den Werken III. 152): &#x201E;Die Sicherheit der<lb/>
Rechte Aller ist der alleinige gemeinsame Wille&#x201C;, d. h. Stats-<lb/>
wille. Von dieser Kant'schen Ansicht aus hat <hi rendition="#g">Wilhelm von<lb/>
Humboldt</hi> die &#x201E;Grenzen der Wirksamkeit des Stats&#x201C; sehr<lb/>
enge bestimmt. Er erklärt: &#x201E;Die Erhaltung der Sicherheit<lb/>
sowohl gegen auswärtige Feinde, als gegen innerliche Zwi-<lb/>
stigkeiten&#x201C; ist der Zweck des States. Aber noch in unserem<lb/>
nationalen Zeitalter behauptete <hi rendition="#g">Eötvös</hi> (Moderne Ideen II.<lb/>
S. 91): &#x201E;Der Zweck des States ist die Sicherheit der Ein-<lb/>
zelnen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Diese Meinung ist in der zweiten Hälfte des vorigen<lb/>
Jahrhunderts aufgekommen. Man suchte damals nach einer<lb/>
grundsätzlichen Beschränkung jener wohlwollenden aber über-<lb/>
aus lästigen und die Freiheit des Privatlebens drückenden<lb/>
Vielregiererei des aufgeklärten Absolutismus jener Zeit, wel-<lb/>
cher jede Einmischung in das Familienleben, die Berufsfrei-<lb/>
heit, die Vermögensverwaltung der Privaten mit der Sorge für<lb/>
die allgemeine Wohlfahrt zu begründen und zu rechtfertigen<lb/>
pflegte. Man meinte in der Bestimmung des Statszwecks als<lb/>
Rechtssicherheit das Mittel gefunden zu haben, um jener Viel-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[354/0372] Fünftes Buch. Der Statszweck. Drittes Capitel. Ungenügende oder übertriebene Bestimmungen des Statszwecks. 1. Seit Kant und Fichte wurde die Meinung in Deutschland eine Zeit lang herrschend, der wahre Statszweck sei lediglich die Rechtssicherheit. Dabei dachte man vorzugsweise oder gar ausschlieszlich an das Recht der Einzel- menschen, der Privaten. Kant hatte ausdrücklich erklärt (Rechtslehre §. 47-49): „Nicht das Wohl der Statsbürger und ihre Glückseligkeit, sondern der Zustand der Uebereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprincipien ist das Heil (Ziel) des Stats.“ Fichte (Naturrecht in den Werken III. 152): „Die Sicherheit der Rechte Aller ist der alleinige gemeinsame Wille“, d. h. Stats- wille. Von dieser Kant'schen Ansicht aus hat Wilhelm von Humboldt die „Grenzen der Wirksamkeit des Stats“ sehr enge bestimmt. Er erklärt: „Die Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde, als gegen innerliche Zwi- stigkeiten“ ist der Zweck des States. Aber noch in unserem nationalen Zeitalter behauptete Eötvös (Moderne Ideen II. S. 91): „Der Zweck des States ist die Sicherheit der Ein- zelnen.“ Diese Meinung ist in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts aufgekommen. Man suchte damals nach einer grundsätzlichen Beschränkung jener wohlwollenden aber über- aus lästigen und die Freiheit des Privatlebens drückenden Vielregiererei des aufgeklärten Absolutismus jener Zeit, wel- cher jede Einmischung in das Familienleben, die Berufsfrei- heit, die Vermögensverwaltung der Privaten mit der Sorge für die allgemeine Wohlfahrt zu begründen und zu rechtfertigen pflegte. Man meinte in der Bestimmung des Statszwecks als Rechtssicherheit das Mittel gefunden zu haben, um jener Viel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/372
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/372>, abgerufen am 22.12.2024.