Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.
wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie
als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird.
Auch was von realer Machtfülle zur Statenbildung unent-
behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die
wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten-
bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End-
lich wird auch dem geistig-sittlichen Momente des Willens
sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte
und zerfahrene Einzelwillen, sondern den von Natur gemein-
samen und einheitlichen Volks- oder Statswillen.

Der Anlage nach ist der Gesammtwille in den Nationen
ebenso rassenmäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs-
und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heiszen. Dieser
Gesammtwille in der Offenbarung wird zum Statswillen, wäh-
rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt,
wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen.
Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver-
trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt,
das einheitliche Gesetz, wie der Befehl, wenn es sich um
polizeiliche Functionen, das Urtheil, wenn es sich um Ver-
waltung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe
in sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln,
seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern.

Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung
der schlechten Leidenschaften, nicht ein nothwendiges Uebel,
sondern ein nothwendiges Gut. Die Völker als Gesammt-
wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht
anders zu Darstellung ihrer innern Gemeinschaft und Einheit,
nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge-
langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirk-
lichen. Der Stat ist die Erfüllung der Gesammtordnung und
die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in
allen öffentlichen Dingen.

So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine

Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.
wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie
als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird.
Auch was von realer Machtfülle zur Statenbildung unent-
behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die
wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten-
bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End-
lich wird auch dem geistig-sittlichen Momente des Willens
sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte
und zerfahrene Einzelwillen, sondern den von Natur gemein-
samen und einheitlichen Volks- oder Statswillen.

Der Anlage nach ist der Gesammtwille in den Nationen
ebenso rassenmäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs-
und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heiszen. Dieser
Gesammtwille in der Offenbarung wird zum Statswillen, wäh-
rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt,
wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen.
Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver-
trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt,
das einheitliche Gesetz, wie der Befehl, wenn es sich um
polizeiliche Functionen, das Urtheil, wenn es sich um Ver-
waltung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe
in sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln,
seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern.

Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung
der schlechten Leidenschaften, nicht ein nothwendiges Uebel,
sondern ein nothwendiges Gut. Die Völker als Gesammt-
wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht
anders zu Darstellung ihrer innern Gemeinschaft und Einheit,
nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge-
langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirk-
lichen. Der Stat ist die Erfüllung der Gesammtordnung und
die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in
allen öffentlichen Dingen.

So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0361" n="343"/><fw place="top" type="header">Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc.</fw><lb/>
wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie<lb/>
als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird.<lb/>
Auch was von <hi rendition="#g">realer Machtfülle</hi> zur Statenbildung unent-<lb/>
behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die<lb/>
wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten-<lb/>
bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End-<lb/>
lich wird auch dem geistig-sittlichen Momente des Willens<lb/>
sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte<lb/>
und zerfahrene Einzelwillen, sondern den von Natur gemein-<lb/>
samen und einheitlichen <hi rendition="#g">Volks</hi>- oder <hi rendition="#g">Statswillen</hi>.</p><lb/>
          <p>Der Anlage nach ist der Gesammtwille in den Nationen<lb/>
ebenso rassenmäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs-<lb/>
und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heiszen. Dieser<lb/>
Gesammtwille in der Offenbarung wird zum Statswillen, wäh-<lb/>
rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt,<lb/>
wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen.<lb/>
Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver-<lb/>
trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt,<lb/>
das einheitliche <hi rendition="#g">Gesetz</hi>, wie der <hi rendition="#g">Befehl</hi>, wenn es sich um<lb/>
polizeiliche Functionen, das <hi rendition="#g">Urtheil</hi>, wenn es sich um Ver-<lb/>
waltung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe<lb/>
in sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln,<lb/>
seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern.</p><lb/>
          <p>Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung<lb/>
der schlechten Leidenschaften, nicht ein nothwendiges Uebel,<lb/>
sondern ein <hi rendition="#g">nothwendiges Gut</hi>. Die Völker als Gesammt-<lb/>
wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht<lb/>
anders zu Darstellung ihrer innern Gemeinschaft und Einheit,<lb/>
nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge-<lb/>
langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirk-<lb/>
lichen. Der Stat ist die <hi rendition="#g">Erfüllung</hi> der Gesammtordnung und<lb/>
die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in<lb/>
allen öffentlichen Dingen.</p><lb/>
          <p>So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[343/0361] Zehntes Capitel. B. Speculative Theorien. V. Der organische Statstrieb etc. wird daher nicht verletzt, wenn gleich der Stat in erster Linie als eine Aufgabe und ein Werk der Menschen erklärt wird. Auch was von realer Machtfülle zur Statenbildung unent- behrlich ist, wird in seiner Bedeutung anerkannt, denn die wesentliche Macht ist die in der gemeinsamen, der Staten- bildung zugewendeten Menschennatur ruhende Volkskraft. End- lich wird auch dem geistig-sittlichen Momente des Willens sein Recht zugestanden. Nur haben wir hier nicht zersplitterte und zerfahrene Einzelwillen, sondern den von Natur gemein- samen und einheitlichen Volks- oder Statswillen. Der Anlage nach ist der Gesammtwille in den Nationen ebenso rassenmäszig vorhanden wie der gemeinsame Einigungs- und Organisationstrieb, den wir Statstrieb heiszen. Dieser Gesammtwille in der Offenbarung wird zum Statswillen, wäh- rend der rein individuelle Wille selbst dann individuell bleibt, wenn zwei Individuen mit einander einen Vertrag abschlieszen. Der richtige Ausdruck des Gesammtwillens ist nicht der Ver- trag, sondern wenn es sich um dauernde Ordnungen handelt, das einheitliche Gesetz, wie der Befehl, wenn es sich um polizeiliche Functionen, das Urtheil, wenn es sich um Ver- waltung der Gerechtigkeit handelt. Der Stat hat die Organe in sich, welche dem Gesammtwillen dienen, sich zu sammeln, seiner bewuszt zu werden, sich zu äuszern. Der Stat ist daher nicht eine Ordnung nur zur Zähmung der schlechten Leidenschaften, nicht ein nothwendiges Uebel, sondern ein nothwendiges Gut. Die Völker als Gesammt- wesen und die Menschheit als Gesammtwesen können nicht anders zu Darstellung ihrer innern Gemeinschaft und Einheit, nicht anders zu ihrer Selbstbestimmung als grosze Ganze ge- langen, als indem sie ihre Statsanlage zum State verwirk- lichen. Der Stat ist die Erfüllung der Gesammtordnung und die Organisation zur Vervollkommnung des Gesammtlebens in allen öffentlichen Dingen. So verstanden ist der Stat zwar wohl zunächst eine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/361
Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/361>, abgerufen am 16.07.2024.