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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
schroff entgegen, es verwirft dieselbe unzweideutig. Selbst in
den Zeiten, als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die zahl-
reichsten Anhänger hatte und am wirksamsten war, konnte
sie doch niemals die entgegenstehende Realität der Natur
überwältigen. Das Volk wurde zwar in lauter "freie und
gleiche Bürger" aufgelöst, aber die Minderheiten auch in den
Urversammlungen "vertrugen" sich nicht mit den Mehrheiten,
welche ihren Willen als den übergeordneten und allein gel-
tenden durchsetzten. Die "constituirende" Versammlung wurde
zwar als ein Auszug und als eine Stellvertretung der sämmt-
lichen Bürger angesehen, und ihr die Aufgabe gestellt, sich
über eine Verfassung zu vereinbaren; aber auch in ihr über-
wog die einheitliche Form des Beschlusses durchweg
über die vielheitliche des Vertrages. Man "fingirte" einen
Vertrag, wo kein wirklicher zu erkennen war, und täuschte
sich und andere mit der fingirten Freiwilligkeit der Einzelnen,
da wo die Mehrheit als Organ der Gesammtheit eine häufig
unerträgliche Herrschaft 1 übte.

Wie die Unwahrheit der Theorie durch die Geschichte
nachgewiesen ist, so hält dieselbe auch der Kritik der Ver-
nunft nicht Stand. Sie geht aus von der Freiheit und von
der Gleichheit der Individuen, die den Vertrag abschlieszen.
Aber politische Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist
nur im State, nicht auszerhalb desselben denkbar. Der Mensch
hat wohl die Anlage zu dieser Freiheit schon in sich, wie den
Trieb und das Bedürfnisz des States; die Wirklichkeit dieser
Freiheit dagegen kann erst in der organischen Gemeinschaft
des States zu Tage treten. Wären die Individuen ferner nur
gleich, so könnte nie ein Stat entstehen, 2 denn dieser setzt

1 Rousseau (C. 5.) schon fingirt eine ursprüngliche Ein-
stimmigkeit
, durch welche das Gesetz der spätern Mehrheit ange-
ordnet worden, aber die Fiction deckt den Widerspruch nicht.
2 Aristoteles, Polit. II. 1, 4: "ou gar ginetai polis ex omoion; eteron
gar summakhia (Bundesgenossenschaft) kai polis (Stat)."
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 22

Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie.
schroff entgegen, es verwirft dieselbe unzweideutig. Selbst in
den Zeiten, als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die zahl-
reichsten Anhänger hatte und am wirksamsten war, konnte
sie doch niemals die entgegenstehende Realität der Natur
überwältigen. Das Volk wurde zwar in lauter „freie und
gleiche Bürger“ aufgelöst, aber die Minderheiten auch in den
Urversammlungen „vertrugen“ sich nicht mit den Mehrheiten,
welche ihren Willen als den übergeordneten und allein gel-
tenden durchsetzten. Die „constituirende“ Versammlung wurde
zwar als ein Auszug und als eine Stellvertretung der sämmt-
lichen Bürger angesehen, und ihr die Aufgabe gestellt, sich
über eine Verfassung zu vereinbaren; aber auch in ihr über-
wog die einheitliche Form des Beschlusses durchweg
über die vielheitliche des Vertrages. Man „fingirte“ einen
Vertrag, wo kein wirklicher zu erkennen war, und täuschte
sich und andere mit der fingirten Freiwilligkeit der Einzelnen,
da wo die Mehrheit als Organ der Gesammtheit eine häufig
unerträgliche Herrschaft 1 übte.

Wie die Unwahrheit der Theorie durch die Geschichte
nachgewiesen ist, so hält dieselbe auch der Kritik der Ver-
nunft nicht Stand. Sie geht aus von der Freiheit und von
der Gleichheit der Individuen, die den Vertrag abschlieszen.
Aber politische Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist
nur im State, nicht auszerhalb desselben denkbar. Der Mensch
hat wohl die Anlage zu dieser Freiheit schon in sich, wie den
Trieb und das Bedürfnisz des States; die Wirklichkeit dieser
Freiheit dagegen kann erst in der organischen Gemeinschaft
des States zu Tage treten. Wären die Individuen ferner nur
gleich, so könnte nie ein Stat entstehen, 2 denn dieser setzt

1 Rousseau (C. 5.) schon fingirt eine ursprüngliche Ein-
stimmigkeit
, durch welche das Gesetz der spätern Mehrheit ange-
ordnet worden, aber die Fiction deckt den Widerspruch nicht.
2 Aristoteles, Polit. II. 1, 4: „οὐ γὰϱ γίνεται πόλις ἐξ ὁμοίων; ἕτεϱον
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Bluntschli, allgemeine Statslehre. 22
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[337/0355] Neuntes Capitel. B. Speculative Theorien. IV. Die Vertragstheorie. schroff entgegen, es verwirft dieselbe unzweideutig. Selbst in den Zeiten, als die Lehre vom Gesellschaftsvertrag die zahl- reichsten Anhänger hatte und am wirksamsten war, konnte sie doch niemals die entgegenstehende Realität der Natur überwältigen. Das Volk wurde zwar in lauter „freie und gleiche Bürger“ aufgelöst, aber die Minderheiten auch in den Urversammlungen „vertrugen“ sich nicht mit den Mehrheiten, welche ihren Willen als den übergeordneten und allein gel- tenden durchsetzten. Die „constituirende“ Versammlung wurde zwar als ein Auszug und als eine Stellvertretung der sämmt- lichen Bürger angesehen, und ihr die Aufgabe gestellt, sich über eine Verfassung zu vereinbaren; aber auch in ihr über- wog die einheitliche Form des Beschlusses durchweg über die vielheitliche des Vertrages. Man „fingirte“ einen Vertrag, wo kein wirklicher zu erkennen war, und täuschte sich und andere mit der fingirten Freiwilligkeit der Einzelnen, da wo die Mehrheit als Organ der Gesammtheit eine häufig unerträgliche Herrschaft 1 übte. Wie die Unwahrheit der Theorie durch die Geschichte nachgewiesen ist, so hält dieselbe auch der Kritik der Ver- nunft nicht Stand. Sie geht aus von der Freiheit und von der Gleichheit der Individuen, die den Vertrag abschlieszen. Aber politische Freiheit, die hier vorausgesetzt wird, ist nur im State, nicht auszerhalb desselben denkbar. Der Mensch hat wohl die Anlage zu dieser Freiheit schon in sich, wie den Trieb und das Bedürfnisz des States; die Wirklichkeit dieser Freiheit dagegen kann erst in der organischen Gemeinschaft des States zu Tage treten. Wären die Individuen ferner nur gleich, so könnte nie ein Stat entstehen, 2 denn dieser setzt 1 Rousseau (C. 5.) schon fingirt eine ursprüngliche Ein- stimmigkeit, durch welche das Gesetz der spätern Mehrheit ange- ordnet worden, aber die Fiction deckt den Widerspruch nicht. 2 Aristoteles, Polit. II. 1, 4: „οὐ γὰϱ γίνεται πόλις ἐξ ὁμοίων; ἕτεϱον γὰϱ συμμαχία (Bundesgenossenschaft) ϰαὶ πόλις (Stat).“ Bluntschli, allgemeine Statslehre. 22

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/355>, abgerufen am 22.11.2024.