Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider- stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An- erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der Zerstörung und des Todes.
Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt- lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy- sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will, Empörung wider das Recht. 2
Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un- entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in- sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber, welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht- verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die
2Schmitthenner, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.): "Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup- ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht" (s'il ne transforme sa force en droit et l'obeissance en devoir).
Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider- stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An- erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der Zerstörung und des Todes.
Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt- lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy- sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will, Empörung wider das Recht. 2
Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un- entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in- sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber, welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht- verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die
2Schmitthenner, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.): „Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup- ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht“ (s'il ne transforme sa force en droit et l'obéissance en devoir).
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0352"n="334"/><fwplace="top"type="header">Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.</fw><lb/>
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten<lb/>
an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die<lb/><hirendition="#g">Dienerin wirklicher Rechtsansprüche</hi>. Sie war nicht<lb/>
die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider-<lb/>
stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht<lb/>
das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An-<lb/>
erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst<lb/>
in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig<lb/>
nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der<lb/>
Zerstörung und des Todes.</p><lb/><p>Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem<lb/>
Begriffe der <hirendition="#g">persönlichen Freiheit</hi>. Sie kennt nur Herren<lb/>
und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens<lb/>
Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der<lb/><hirendition="#g">Idee des Rechts</hi>, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt-<lb/>
lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy-<lb/>
sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte<lb/>
zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will,<lb/>
Empörung wider das Recht. <noteplace="foot"n="2"><hirendition="#g">Schmitthenner</hi>, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne<lb/>
hieher gehörige Aeuszerung von J. J. <hirendition="#g">Rousseau</hi> (Contr. Soc. I. 3.):<lb/>„Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup-<lb/>
ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der<lb/>
Unterworfenen in Pflicht <hirendition="#g">umzuwandeln</hi> versteht“ (s'il ne transforme<lb/>
sa force en droit et l'obéissance en devoir).</note></p><lb/><p>Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein<lb/>
Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-<lb/>
entbehrliches Moment, das der <hirendition="#g">Macht</hi>, hervor, und hat in-<lb/>
sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber,<lb/>
welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und<lb/>
in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt<lb/>
führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck<lb/>
auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht-<lb/>
verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[334/0352]
Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
gewaltsame Ereignisse, voraus der Krieg, ihren Antheil hatten
an der Gründung neuer Staten, war die Gewalt doch nur die
Dienerin wirklicher Rechtsansprüche. Sie war nicht
die Quelle des Rechts, sondern durchbrach nur den Wider-
stand, der den Abflusz der Quelle hinderte. Sie schuf nicht
das Recht, sondern unterstützte es und erzwang ihm die An-
erkennung. Wo die Gewalt in der Geschichte für sich selbst
in ihrer barbarischen Rohheit auftritt, da ist sie regelmäszig
nicht von schöpferischer Wirkung, sondern ein Instrument der
Zerstörung und des Todes.
Diese Lehre ist im schneidendsten Widerspruche mit dem
Begriffe der persönlichen Freiheit. Sie kennt nur Herren
und Knechte; unter Freien (liberi) versteht sie höchstens
Freigelassene (libertini). Sie widerspricht eben so schroff der
Idee des Rechts, denn dieses ist offenbar von geistig-sitt-
lichem Gehalt, während sie die brutale Uebermacht der phy-
sischen Gewalt auf den Thron erhebt. Berufen dem Rechte
zu dienen, ist die Gewalt, welche selber Recht sein will,
Empörung wider das Recht. 2
Indessen ist auch in den Irrthümern dieser Lehre ein
Rest von Wahrheit verborgen. Sie hebt ein für den Stat un-
entbehrliches Moment, das der Macht, hervor, und hat in-
sofern namentlich der entgegengesetzten Theorie gegenüber,
welche den Stat auf die Willkür der Individuen basirt, und
in ihren Consequenzen zu einer ohnmächtigen Statsgewalt
führt, eine gewisse Berechtigung. Sie legt den Nachdruck
auf die Realität der Erscheinung und die vorhandenen Macht-
verhältnisse, und warnt so vor den eiteln Versuchen, die
2 Schmitthenner, Statswissenschaft. I. S. 13, citirt eine schöne
hieher gehörige Aeuszerung von J. J. Rousseau (Contr. Soc. I. 3.):
„Der Stärkste ist niemals stark genug, um seine Herrschaft zu behaup-
ten, wenn er nicht seine Uebermacht in Recht, und den Gehorsam der
Unterworfenen in Pflicht umzuwandeln versteht“ (s'il ne transforme
sa force en droit et l'obéissance en devoir).
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/352>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.