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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
das allerdings folgt aus dem obigen Princip, aber die Beant-
wortung der ferneren Streitfrage, ob und wie dieselben auch
einem menschlichen Richter verantwortlich seien, läszt
sich nicht schon von da aus entscheiden. Nicht weil die
oberste obrigkeitliche Macht im State specifisch göttlich, son-
dern weil sie die oberste ist, wird für sie Unverantwort-
lichkeit vor menschlichen Richtern in Anspruch genommen.

Ebensowenig darf der Statsmann, im Glauben, dasz Gott
die Schicksale der Völker und Staten bestimme, und lenke,
und im Vertrauen, dasz Gott wohl regiere, gewissermaszen
Gott versuchen und die Verantwortlichkeit von sich ab auf
diesen wälzen. Vielmehr wird er von der eigenen Verant-
wortlichkeit nur dann frei, wenn er die ihm gewordene Auf-
gabe, so weit seine Kräfte reichen, gewissenhaft erfüllt hat. 7

Anmerkung. Die Geschichte des Ausdrucks: "von Gottes Gna-
den
", welcher dem Titel der Könige beigefügt wird, verdient Beachtung.
Es wurde in verschiedenen Zeitaltern damit ein verschiedener Sinn ver-
bunden.

a) Der Ausdruck kam vorzüglich während des Mittelalters in Uebung.
Die alten fränkischen Könige brauchten noch abwechselnd die Ausdrücke:
Gratia Dei, Divina ordinante providentia, Divina favente gratia, Divina
favente clementia, per Dei misericordiam. Damals bedeutete der Ausdruck
lediglich die demüthige Verehrung und die religiöse Dankbarkeit des
Königs gegen Gott, dem die persönliche Erhebung zugeschrieben wurde;
aber ebenso von der Seite der gewählten, wie von Seite der durch Erbrecht
berufenen Fürsten. Der König Pipin, der seine Erhebung einer Revolution
verdankte, brauchte die Formel ebenso unbedenklich, wie sein Sohn
König Ludwig.

Es war in der fränkischen Periode damit noch keine souveräne Ge-
walt angedeutet. Auch Bischöfe und Aebte, obwohl gesetzlich ge-
wählt, oder von den Königen gesetzt, und weltliche Grafen, obwohl
königliche Reichsbeamte, fügten dieselbe Formel ihrem Titel bei.

b) Zur Zeit des römischen Reiches deutscher Nation dauerte der Aus-
druck anfangs in derselben Weise fort. Die gewählten Könige, aber

7 Lamartine, Revolut. de 1848. I. S. 47 spricht diesen Gedanken
schön aus, indem er von sich berichtet: "Il tentait Dieu et le peuple,
Lamartine se reprocha depuis severement cette faute. C'est un tort
grave de renvoyer a Dieu ce que Dieu a laisse a l'homme d'Etat, la
responsabilite il y avait la un defi a la Providence."

Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution.
das allerdings folgt aus dem obigen Princip, aber die Beant-
wortung der ferneren Streitfrage, ob und wie dieselben auch
einem menschlichen Richter verantwortlich seien, läszt
sich nicht schon von da aus entscheiden. Nicht weil die
oberste obrigkeitliche Macht im State specifisch göttlich, son-
dern weil sie die oberste ist, wird für sie Unverantwort-
lichkeit vor menschlichen Richtern in Anspruch genommen.

Ebensowenig darf der Statsmann, im Glauben, dasz Gott
die Schicksale der Völker und Staten bestimme, und lenke,
und im Vertrauen, dasz Gott wohl regiere, gewissermaszen
Gott versuchen und die Verantwortlichkeit von sich ab auf
diesen wälzen. Vielmehr wird er von der eigenen Verant-
wortlichkeit nur dann frei, wenn er die ihm gewordene Auf-
gabe, so weit seine Kräfte reichen, gewissenhaft erfüllt hat. 7

Anmerkung. Die Geschichte des Ausdrucks: „von Gottes Gna-
den
“, welcher dem Titel der Könige beigefügt wird, verdient Beachtung.
Es wurde in verschiedenen Zeitaltern damit ein verschiedener Sinn ver-
bunden.

a) Der Ausdruck kam vorzüglich während des Mittelalters in Uebung.
Die alten fränkischen Könige brauchten noch abwechselnd die Ausdrücke:
Gratia Dei, Divina ordinante providentia, Divina favente gratia, Divina
favente clementia, per Dei misericordiam. Damals bedeutete der Ausdruck
lediglich die demüthige Verehrung und die religiöse Dankbarkeit des
Königs gegen Gott, dem die persönliche Erhebung zugeschrieben wurde;
aber ebenso von der Seite der gewählten, wie von Seite der durch Erbrecht
berufenen Fürsten. Der König Pipin, der seine Erhebung einer Revolution
verdankte, brauchte die Formel ebenso unbedenklich, wie sein Sohn
König Ludwig.

Es war in der fränkischen Periode damit noch keine souveräne Ge-
walt angedeutet. Auch Bischöfe und Aebte, obwohl gesetzlich ge-
wählt, oder von den Königen gesetzt, und weltliche Grafen, obwohl
königliche Reichsbeamte, fügten dieselbe Formel ihrem Titel bei.

b) Zur Zeit des römischen Reiches deutscher Nation dauerte der Aus-
druck anfangs in derselben Weise fort. Die gewählten Könige, aber

7 Lamartine, Révolut. de 1848. I. S. 47 spricht diesen Gedanken
schön aus, indem er von sich berichtet: „Il tentait Dieu et le peuple,
Lamartine se reprocha depuis sévèrement cette faute. C'est un tort
grave de renvoyer à Dieu ce que Dieu a laissé à l'homme d'État, la
résponsabilité il y avait là un défi à la Providence.“
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[331/0349] Siebentes Cap. B. Speculative Theorien. II. Der Stat als göttliche Institution. das allerdings folgt aus dem obigen Princip, aber die Beant- wortung der ferneren Streitfrage, ob und wie dieselben auch einem menschlichen Richter verantwortlich seien, läszt sich nicht schon von da aus entscheiden. Nicht weil die oberste obrigkeitliche Macht im State specifisch göttlich, son- dern weil sie die oberste ist, wird für sie Unverantwort- lichkeit vor menschlichen Richtern in Anspruch genommen. Ebensowenig darf der Statsmann, im Glauben, dasz Gott die Schicksale der Völker und Staten bestimme, und lenke, und im Vertrauen, dasz Gott wohl regiere, gewissermaszen Gott versuchen und die Verantwortlichkeit von sich ab auf diesen wälzen. Vielmehr wird er von der eigenen Verant- wortlichkeit nur dann frei, wenn er die ihm gewordene Auf- gabe, so weit seine Kräfte reichen, gewissenhaft erfüllt hat. 7 Anmerkung. Die Geschichte des Ausdrucks: „von Gottes Gna- den“, welcher dem Titel der Könige beigefügt wird, verdient Beachtung. Es wurde in verschiedenen Zeitaltern damit ein verschiedener Sinn ver- bunden. a) Der Ausdruck kam vorzüglich während des Mittelalters in Uebung. Die alten fränkischen Könige brauchten noch abwechselnd die Ausdrücke: Gratia Dei, Divina ordinante providentia, Divina favente gratia, Divina favente clementia, per Dei misericordiam. Damals bedeutete der Ausdruck lediglich die demüthige Verehrung und die religiöse Dankbarkeit des Königs gegen Gott, dem die persönliche Erhebung zugeschrieben wurde; aber ebenso von der Seite der gewählten, wie von Seite der durch Erbrecht berufenen Fürsten. Der König Pipin, der seine Erhebung einer Revolution verdankte, brauchte die Formel ebenso unbedenklich, wie sein Sohn König Ludwig. Es war in der fränkischen Periode damit noch keine souveräne Ge- walt angedeutet. Auch Bischöfe und Aebte, obwohl gesetzlich ge- wählt, oder von den Königen gesetzt, und weltliche Grafen, obwohl königliche Reichsbeamte, fügten dieselbe Formel ihrem Titel bei. b) Zur Zeit des römischen Reiches deutscher Nation dauerte der Aus- druck anfangs in derselben Weise fort. Die gewählten Könige, aber 7 Lamartine, Révolut. de 1848. I. S. 47 spricht diesen Gedanken schön aus, indem er von sich berichtet: „Il tentait Dieu et le peuple, Lamartine se reprocha depuis sévèrement cette faute. C'est un tort grave de renvoyer à Dieu ce que Dieu a laissé à l'homme d'État, la résponsabilité il y avait là un défi à la Providence.“

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/349>, abgerufen am 25.11.2024.