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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.
liche Gewalt anerkennt, wenn jeder Einzelne nur seinen Lüsten
den losen Lauf läszt, und keiner mehr sich um das Ganze
kümmert, noch der Gemeinschaft Opfer bringt, so wird der
Stat selbst negirt, und das organisirte Volk ist in diesem
Falle zur chaotischen Masse herabgesunken. Die Anarchie
hebt somit im Princip den Stat, nicht etwa nur die bisherige
Statsform auf. Allein eine so entschiedene und so andauernde
Anarchie, die dann freilich immer der Tod des States ist,
findet sich doch in der Geschichte der Völker höchst selten.
Weit häufiger sind die anarchischen Zustände blosz vorüber-
gehend
und momentane Fieberkrisen, welche zwar
das Leben des States bedrohen, aber oft nur eine andere Ge-
staltung der Statsverfassung vorbereiten. Gerade in den Zeiten
heftiger Erschütterungen der Revolution offenbart sich die
entschieden statliche Natur der arischen Völkerstämme in
höchst merkwürdiger Weise. Selbst in dem Augenblick, wo
sie die statliche Ordnung mit wüthendem Hasse stürzen, unter-
werfen sie sich doch den nothwendigen Formen des statlichen
Daseins, und während sie in der Verwirrung der Ideen für
Anarchie schwärmen, gehorchen sie blindlings je den wilde-
sten und strengsten Führern. Dicht hinter dem Triumphzug
der entfesselten und freiheitstrunkenen Massen erscheinen die
kalten, ehernen Züge der Dictatoren, und in den Trümmern
der zerstörten Statsordnung macht sich sofort wieder das Volk
eine neue, wenn auch vielleicht schlechtere statliche Wohnung
zurecht. Auch die Völker der groszen arischen Familie sind
nicht unsterblich, aber so lange ihr Leben dauert, können
sie der statlichen Form ihres Daseins so wenig entbehren, als
der Fisch des Wassers, oder der Vogel der Luft. Es gibt
kein einziges Beispiel in der Geschichte, dasz ein arisches
Volk sich dauernd losgemacht hätte von dem State, oder dasz
ein solches auch nur in den Zustand der Nomaden zurück-
gesunken wäre. Im sechszehnten Jahrhundert haben die Wie-
dertäufer die Idee des States vollständig verworfen, ähnlich

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 21

Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten.
liche Gewalt anerkennt, wenn jeder Einzelne nur seinen Lüsten
den losen Lauf läszt, und keiner mehr sich um das Ganze
kümmert, noch der Gemeinschaft Opfer bringt, so wird der
Stat selbst negirt, und das organisirte Volk ist in diesem
Falle zur chaotischen Masse herabgesunken. Die Anarchie
hebt somit im Princip den Stat, nicht etwa nur die bisherige
Statsform auf. Allein eine so entschiedene und so andauernde
Anarchie, die dann freilich immer der Tod des States ist,
findet sich doch in der Geschichte der Völker höchst selten.
Weit häufiger sind die anarchischen Zustände blosz vorüber-
gehend
und momentane Fieberkrisen, welche zwar
das Leben des States bedrohen, aber oft nur eine andere Ge-
staltung der Statsverfassung vorbereiten. Gerade in den Zeiten
heftiger Erschütterungen der Revolution offenbart sich die
entschieden statliche Natur der arischen Völkerstämme in
höchst merkwürdiger Weise. Selbst in dem Augenblick, wo
sie die statliche Ordnung mit wüthendem Hasse stürzen, unter-
werfen sie sich doch den nothwendigen Formen des statlichen
Daseins, und während sie in der Verwirrung der Ideen für
Anarchie schwärmen, gehorchen sie blindlings je den wilde-
sten und strengsten Führern. Dicht hinter dem Triumphzug
der entfesselten und freiheitstrunkenen Massen erscheinen die
kalten, ehernen Züge der Dictatoren, und in den Trümmern
der zerstörten Statsordnung macht sich sofort wieder das Volk
eine neue, wenn auch vielleicht schlechtere statliche Wohnung
zurecht. Auch die Völker der groszen arischen Familie sind
nicht unsterblich, aber so lange ihr Leben dauert, können
sie der statlichen Form ihres Daseins so wenig entbehren, als
der Fisch des Wassers, oder der Vogel der Luft. Es gibt
kein einziges Beispiel in der Geschichte, dasz ein arisches
Volk sich dauernd losgemacht hätte von dem State, oder dasz
ein solches auch nur in den Zustand der Nomaden zurück-
gesunken wäre. Im sechszehnten Jahrhundert haben die Wie-
dertäufer die Idee des States vollständig verworfen, ähnlich

Bluntschli, allgemeine Statslehre. 21
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[321/0339] Fünftes Cap. A. Geschichtl. Entstehungsformen. IV. Untergang der Staten. liche Gewalt anerkennt, wenn jeder Einzelne nur seinen Lüsten den losen Lauf läszt, und keiner mehr sich um das Ganze kümmert, noch der Gemeinschaft Opfer bringt, so wird der Stat selbst negirt, und das organisirte Volk ist in diesem Falle zur chaotischen Masse herabgesunken. Die Anarchie hebt somit im Princip den Stat, nicht etwa nur die bisherige Statsform auf. Allein eine so entschiedene und so andauernde Anarchie, die dann freilich immer der Tod des States ist, findet sich doch in der Geschichte der Völker höchst selten. Weit häufiger sind die anarchischen Zustände blosz vorüber- gehend und momentane Fieberkrisen, welche zwar das Leben des States bedrohen, aber oft nur eine andere Ge- staltung der Statsverfassung vorbereiten. Gerade in den Zeiten heftiger Erschütterungen der Revolution offenbart sich die entschieden statliche Natur der arischen Völkerstämme in höchst merkwürdiger Weise. Selbst in dem Augenblick, wo sie die statliche Ordnung mit wüthendem Hasse stürzen, unter- werfen sie sich doch den nothwendigen Formen des statlichen Daseins, und während sie in der Verwirrung der Ideen für Anarchie schwärmen, gehorchen sie blindlings je den wilde- sten und strengsten Führern. Dicht hinter dem Triumphzug der entfesselten und freiheitstrunkenen Massen erscheinen die kalten, ehernen Züge der Dictatoren, und in den Trümmern der zerstörten Statsordnung macht sich sofort wieder das Volk eine neue, wenn auch vielleicht schlechtere statliche Wohnung zurecht. Auch die Völker der groszen arischen Familie sind nicht unsterblich, aber so lange ihr Leben dauert, können sie der statlichen Form ihres Daseins so wenig entbehren, als der Fisch des Wassers, oder der Vogel der Luft. Es gibt kein einziges Beispiel in der Geschichte, dasz ein arisches Volk sich dauernd losgemacht hätte von dem State, oder dasz ein solches auch nur in den Zustand der Nomaden zurück- gesunken wäre. Im sechszehnten Jahrhundert haben die Wie- dertäufer die Idee des States vollständig verworfen, ähnlich Bluntschli, allgemeine Statslehre. 21

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/339>, abgerufen am 25.11.2024.