Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie im- moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen. Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon mehrere Generationen schlechter Regenten überdauert. Aber auch nicht, wie neuerlich Gobineau behauptet hat, in der Mischung und Entartung der Volksrassen; manche Staten sind gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig geworden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen wesentlich verändert worden; ich erinnere an Rom, an Eng- land, an Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem groszen Gesetz alles irdisch-organischen Lebens, dasz es durch die Geschichte entwickelt und aufgezehrt werde. Das Leben der Völker und der Staten entfaltet sich, und indem es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt es seine Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich fortschreitenden Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten kann, überholt und zurückgelassen.
So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie- digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er- scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit selbst.
Die besonderen Formen des Statenuntergangs aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung, und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be- gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft die Geburt des andern sich unmittelbar an.
1. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet die Desorganisation oder Auflösung des Volkes. Eine eigenthümliche Art der Desorganisation ist die Anar- chie. Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke nicht mehr geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeit-
Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie im- moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen. Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon mehrere Generationen schlechter Regenten überdauert. Aber auch nicht, wie neuerlich Gobineau behauptet hat, in der Mischung und Entartung der Volksrassen; manche Staten sind gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig geworden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen wesentlich verändert worden; ich erinnere an Rom, an Eng- land, an Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem groszen Gesetz alles irdisch-organischen Lebens, dasz es durch die Geschichte entwickelt und aufgezehrt werde. Das Leben der Völker und der Staten entfaltet sich, und indem es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt es seine Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich fortschreitenden Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten kann, überholt und zurückgelassen.
So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie- digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er- scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit selbst.
Die besonderen Formen des Statenuntergangs aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung, und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be- gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft die Geburt des andern sich unmittelbar an.
1. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet die Desorganisation oder Auflösung des Volkes. Eine eigenthümliche Art der Desorganisation ist die Anar- chie. Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke nicht mehr geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeit-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0338"n="320"/><fwplace="top"type="header">Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.</fw><lb/>
auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie im-<lb/>
moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen.<lb/>
Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon<lb/>
mehrere Generationen schlechter Regenten überdauert. Aber<lb/>
auch nicht, wie neuerlich <hirendition="#g">Gobineau</hi> behauptet hat, in der<lb/>
Mischung und Entartung der Volksrassen; manche Staten sind<lb/>
gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig<lb/>
geworden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen<lb/>
wesentlich verändert worden; ich erinnere an Rom, an Eng-<lb/>
land, an Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem<lb/>
groszen Gesetz alles <hirendition="#g">irdisch-organischen Lebens</hi>, dasz<lb/>
es <hirendition="#g">durch die Geschichte entwickelt</hi> und <hirendition="#g">aufgezehrt<lb/>
werde</hi>. Das Leben der Völker und der Staten entfaltet sich,<lb/>
und indem es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt<lb/>
es seine Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich<lb/>
fortschreitenden Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten<lb/>
kann, überholt und zurückgelassen.</p><lb/><p>So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der<lb/>
fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie-<lb/>
digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf<lb/>
der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er-<lb/>
scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange<lb/>
dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit<lb/>
selbst.</p><lb/><p>Die <hirendition="#g">besonderen Formen des Statenuntergangs</hi><lb/>
aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung,<lb/>
und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be-<lb/>
gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft<lb/>
die Geburt des andern sich unmittelbar an.</p><lb/><p>1. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet<lb/>
die <hirendition="#g">Desorganisation</hi> oder <hirendition="#g">Auflösung des Volkes</hi>.<lb/>
Eine eigenthümliche Art der Desorganisation ist die <hirendition="#g">Anar-<lb/>
chie</hi>. Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke<lb/>
nicht mehr geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeit-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[320/0338]
Viertes Buch. Von der Entstehung und dem Untergang des States.
auch demoralisirte Völker sehr lange leben können, wie im-
moralische Menschen doch zuweilen ein hohes Alter erreichen.
Auch nicht in schlechter Regierung; mancher Stat hat schon
mehrere Generationen schlechter Regenten überdauert. Aber
auch nicht, wie neuerlich Gobineau behauptet hat, in der
Mischung und Entartung der Volksrassen; manche Staten sind
gerade durch die Mischung der Rassen grosz und mächtig
geworden und haben fortgedauert, obwohl die Volksrassen
wesentlich verändert worden; ich erinnere an Rom, an Eng-
land, an Nordamerika. Die wahre Ursache liegt in dem
groszen Gesetz alles irdisch-organischen Lebens, dasz
es durch die Geschichte entwickelt und aufgezehrt
werde. Das Leben der Völker und der Staten entfaltet sich,
und indem es allmählich, was in ihm liegt, offenbart, erfüllt
es seine Bestimmung und stirbt ab, von der unermüdlich
fortschreitenden Zeit, mit der es nicht mehr Schritt halten
kann, überholt und zurückgelassen.
So scheinen auch die beschränkten Einzelstaten von der
fortschreitenden Menschheit, die in ihnen keine volle Befrie-
digung findet, verschlungen zu werden. Kommt dereinst auf
der breiten Unterlage der Menschheit das Weltreich zur Er-
scheinung, dann dürfen wir hoffen, dasz dieser Stat so lange
dauern und nicht früher untergehen werde, als die Menschheit
selbst.
Die besonderen Formen des Statenuntergangs
aber entsprechen groszentheils den Formen der Statenbildung,
und nicht selten werden alte Staten zerstört, wenn neue be-
gründet werden. An den Tod des einen States schlieszt oft
die Geburt des andern sich unmittelbar an.
1. Den Gegensatz zu der Organisation des Volkes bildet
die Desorganisation oder Auflösung des Volkes.
Eine eigenthümliche Art der Desorganisation ist die Anar-
chie. Wenn die Ueber- und Unterordnung in dem Volke
nicht mehr geachtet wird, und Niemand mehr eine obrigkeit-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/338>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.