Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
völlige politische Einheit der gemischten Nation vollzogen ist. Um vor dieser Gefahr sein neu organisirtes Volk zu bewah- ren, hatte Moses den Juden zur Pflicht gemacht, dasz sie die Einwohner des heiligen Landes, das ihnen Jehovah ver- leihen werde, mit Feuer und Schwert vertilgen sollen. Dieser Gefahr sind auch manche siegreiche Völker erlegen, indem die höhere Cultur der Besiegten dieselben in kurzem wieder unterwarf.
Von jeher ist die Eroberung, obwohl in Form der Ge- walt auftretend, als eine Quelle des statlichen Rechtes unter allen Völkern angesehen worden, und das Wort Alexanders des Groszen, 5 dasz der Sieger das Gesetz gebe, der Besiegte es annehme, ist noch heute nicht verschollen.
Gewisz ist der Rechtszustand noch ein unvollkommener, in welchem die äuszere Gewalt einen so übermächtigen Ein- flusz übt auf die Begründung neuen und die Zerstörung alten Rechtes. Aber so roh auch die Form der Eroberung ist, es liegt in ihr doch ein geistiger Gehalt verborgen, welcher jene rechtliche Bedeutung erklärt. Die alten, in vorzüglichem Sinne die germanischen Völker betrachten den Krieg als einen groszen Völkerprocesz, und den Sieg, welcher von den Göttern verliehen werde, als ein Gottesurtheil zu Gunsten des Siegers. 6 In der Eroberung also stellte sich nicht die blosze physische Uebermacht dar, sondern sie galt auch als eine Beurkundung der moralischen Uebermacht, welche zur Herrschaft im State berechtigt. Daran kann auch das moderne Statsbewuszt-
5Curtius Rufus, Vita Alex. lib. 4. Vgl. Hugo Grot. De jure b. a. p. III. c. 8. §. 1. führt auch ein Wort des germanischen Königs Ario- vist zu Cäsar an: "Es sei das Recht des Krieges, dasz die Sieger, wie sie wollten, über die Besiegten gebieten." (Cäsar de B. G. 1. 36.) Vgl. oben Cap. 9 der Einleitung.
6Bluntschli Studien, S. 202: "Der Krieg ist nur die bisherige und noch rohe Form der Völkerrechtspflege. Das Bewusstsein aber, dasz das nur der Anfang sei zu einem gerechteren und menschlicheren Ver- fahren, fängt an zu erwachen."
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 20
Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
völlige politische Einheit der gemischten Nation vollzogen ist. Um vor dieser Gefahr sein neu organisirtes Volk zu bewah- ren, hatte Moses den Juden zur Pflicht gemacht, dasz sie die Einwohner des heiligen Landes, das ihnen Jehovah ver- leihen werde, mit Feuer und Schwert vertilgen sollen. Dieser Gefahr sind auch manche siegreiche Völker erlegen, indem die höhere Cultur der Besiegten dieselben in kurzem wieder unterwarf.
Von jeher ist die Eroberung, obwohl in Form der Ge- walt auftretend, als eine Quelle des statlichen Rechtes unter allen Völkern angesehen worden, und das Wort Alexanders des Groszen, 5 dasz der Sieger das Gesetz gebe, der Besiegte es annehme, ist noch heute nicht verschollen.
Gewisz ist der Rechtszustand noch ein unvollkommener, in welchem die äuszere Gewalt einen so übermächtigen Ein- flusz übt auf die Begründung neuen und die Zerstörung alten Rechtes. Aber so roh auch die Form der Eroberung ist, es liegt in ihr doch ein geistiger Gehalt verborgen, welcher jene rechtliche Bedeutung erklärt. Die alten, in vorzüglichem Sinne die germanischen Völker betrachten den Krieg als einen groszen Völkerprocesz, und den Sieg, welcher von den Göttern verliehen werde, als ein Gottesurtheil zu Gunsten des Siegers. 6 In der Eroberung also stellte sich nicht die blosze physische Uebermacht dar, sondern sie galt auch als eine Beurkundung der moralischen Uebermacht, welche zur Herrschaft im State berechtigt. Daran kann auch das moderne Statsbewuszt-
5Curtius Rufus, Vita Alex. lib. 4. Vgl. Hugo Grot. De jure b. a. p. III. c. 8. §. 1. führt auch ein Wort des germanischen Königs Ario- vist zu Cäsar an: „Es sei das Recht des Krieges, dasz die Sieger, wie sie wollten, über die Besiegten gebieten.“ (Cäsar de B. G. 1. 36.) Vgl. oben Cap. 9 der Einleitung.
6Bluntschli Studien, S. 202: „Der Krieg ist nur die bisherige und noch rohe Form der Völkerrechtspflege. Das Bewusstsein aber, dasz das nur der Anfang sei zu einem gerechteren und menschlicheren Ver- fahren, fängt an zu erwachen.“
Bluntschli, allgemeine Statslehre. 20
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Zweites Capitel. A. Geschichtliche Entstehungsformen. I. Ursprüngliche.
völlige politische Einheit der gemischten Nation vollzogen ist.
Um vor dieser Gefahr sein neu organisirtes Volk zu bewah-
ren, hatte Moses den Juden zur Pflicht gemacht, dasz sie
die Einwohner des heiligen Landes, das ihnen Jehovah ver-
leihen werde, mit Feuer und Schwert vertilgen sollen. Dieser
Gefahr sind auch manche siegreiche Völker erlegen, indem
die höhere Cultur der Besiegten dieselben in kurzem wieder
unterwarf.
Von jeher ist die Eroberung, obwohl in Form der Ge-
walt auftretend, als eine Quelle des statlichen Rechtes unter
allen Völkern angesehen worden, und das Wort Alexanders
des Groszen, 5 dasz der Sieger das Gesetz gebe, der Besiegte
es annehme, ist noch heute nicht verschollen.
Gewisz ist der Rechtszustand noch ein unvollkommener,
in welchem die äuszere Gewalt einen so übermächtigen Ein-
flusz übt auf die Begründung neuen und die Zerstörung alten
Rechtes. Aber so roh auch die Form der Eroberung ist, es
liegt in ihr doch ein geistiger Gehalt verborgen, welcher jene
rechtliche Bedeutung erklärt. Die alten, in vorzüglichem Sinne
die germanischen Völker betrachten den Krieg als einen
groszen Völkerprocesz, und den Sieg, welcher von den Göttern
verliehen werde, als ein Gottesurtheil zu Gunsten des Siegers. 6
In der Eroberung also stellte sich nicht die blosze physische
Uebermacht dar, sondern sie galt auch als eine Beurkundung
der moralischen Uebermacht, welche zur Herrschaft im
State berechtigt. Daran kann auch das moderne Statsbewuszt-
5 Curtius Rufus, Vita Alex. lib. 4. Vgl. Hugo Grot. De jure b.
a. p. III. c. 8. §. 1. führt auch ein Wort des germanischen Königs Ario-
vist zu Cäsar an: „Es sei das Recht des Krieges, dasz die Sieger, wie
sie wollten, über die Besiegten gebieten.“ (Cäsar de B. G. 1. 36.) Vgl.
oben Cap. 9 der Einleitung.
6 Bluntschli Studien, S. 202: „Der Krieg ist nur die bisherige
und noch rohe Form der Völkerrechtspflege. Das Bewusstsein aber, dasz
das nur der Anfang sei zu einem gerechteren und menschlicheren Ver-
fahren, fängt an zu erwachen.“
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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/323>, abgerufen am 16.02.2025.
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