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Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875.

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Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
169,510 Quadratmeilen. Es sind das ungeheure und weit ent-
legene Gebiete, welche dennoch von Einem Statsgeiste erfüllt
werden. Freilich ist die Macht eines States nicht nach dem
Masz des Gebietsumfangs zu bemessen. Das deutsche Reich
hat einen Umfang nur von 9818 Quadratmeilen und ist den-
noch der mächtigste Stat von Europa. Frankreich hat in
Europa nur 9599 Quadratmeilen und ist dennoch mindestens
so mächtig als Ruszland, dessen europäisches Gebiet zehnmal
gröszer ist. Groszbritannien miszt in Europa nur 5719 Quadrat-
meilen und beherrscht von da aus seine viel gröszeren fernen
Colonien und Nebenländer. Die Zahl der Bevölkerung ist
ein sehr viel wichtigerer Factor bei Bestimmung der Macht
eines Stats als der Gebietsumfang. Aber bedeutungslos auch
für die Machtverhältnisse ist die Grösze der Länder doch
nicht.

Je weiter sich ein Gebiet ausdehnt, um so schwerer
wird die Bewegung auf demselben
und um so schwie-
riger
auch die Regierung desselben. Nur langsam kön-
nen die zerstreuten Kräfte gesammelt, nur unvollkommen die
entlegenen Provinzen von dem Centrum her bestimmt werden.
Selbst die verbesserten Communicationsmittel der neuen Zeit
können diese Schwerbeweglichkeit nur ermäszigen, nicht über-
winden. Das geflügelte Wort kann blitzschnell an die äuszerste
Peripherie versendet werden, aber es fehlt ihm der Nach-
druck der gegenwärtigen Obermacht und das Verständnisz ist
unsicher; es bieten sich vielerlei Ausflüchte, wenn der Wille
des Empfängers der Depesche ungeneigt ist. Menschenmassen,
Lebensmittel, Geräthschaften können auch mit den Eisen-
bahnen nur langsam befördert werden und nicht überall hin
in so weiten dünnbevölkerten Provinzen können Eisenbahnen
hergestellt werden. Oft fehlt es sogar an den gewöhnlichen
Fahrstraszen.

Die Ausdehnung eines Statsgebiets ist schon deszhalb
nicht immer ein Machtzuwachs. Ein Stat kann in Folge von

Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land.
169,510 Quadratmeilen. Es sind das ungeheure und weit ent-
legene Gebiete, welche dennoch von Einem Statsgeiste erfüllt
werden. Freilich ist die Macht eines States nicht nach dem
Masz des Gebietsumfangs zu bemessen. Das deutsche Reich
hat einen Umfang nur von 9818 Quadratmeilen und ist den-
noch der mächtigste Stat von Europa. Frankreich hat in
Europa nur 9599 Quadratmeilen und ist dennoch mindestens
so mächtig als Ruszland, dessen europäisches Gebiet zehnmal
gröszer ist. Groszbritannien miszt in Europa nur 5719 Quadrat-
meilen und beherrscht von da aus seine viel gröszeren fernen
Colonien und Nebenländer. Die Zahl der Bevölkerung ist
ein sehr viel wichtigerer Factor bei Bestimmung der Macht
eines Stats als der Gebietsumfang. Aber bedeutungslos auch
für die Machtverhältnisse ist die Grösze der Länder doch
nicht.

Je weiter sich ein Gebiet ausdehnt, um so schwerer
wird die Bewegung auf demselben
und um so schwie-
riger
auch die Regierung desselben. Nur langsam kön-
nen die zerstreuten Kräfte gesammelt, nur unvollkommen die
entlegenen Provinzen von dem Centrum her bestimmt werden.
Selbst die verbesserten Communicationsmittel der neuen Zeit
können diese Schwerbeweglichkeit nur ermäszigen, nicht über-
winden. Das geflügelte Wort kann blitzschnell an die äuszerste
Peripherie versendet werden, aber es fehlt ihm der Nach-
druck der gegenwärtigen Obermacht und das Verständnisz ist
unsicher; es bieten sich vielerlei Ausflüchte, wenn der Wille
des Empfängers der Depesche ungeneigt ist. Menschenmassen,
Lebensmittel, Geräthschaften können auch mit den Eisen-
bahnen nur langsam befördert werden und nicht überall hin
in so weiten dünnbevölkerten Provinzen können Eisenbahnen
hergestellt werden. Oft fehlt es sogar an den gewöhnlichen
Fahrstraszen.

Die Ausdehnung eines Statsgebiets ist schon deszhalb
nicht immer ein Machtzuwachs. Ein Stat kann in Folge von

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[274/0292] Drittes Buch. Die Grundlagen des Stats etc. Das Land. 169,510 Quadratmeilen. Es sind das ungeheure und weit ent- legene Gebiete, welche dennoch von Einem Statsgeiste erfüllt werden. Freilich ist die Macht eines States nicht nach dem Masz des Gebietsumfangs zu bemessen. Das deutsche Reich hat einen Umfang nur von 9818 Quadratmeilen und ist den- noch der mächtigste Stat von Europa. Frankreich hat in Europa nur 9599 Quadratmeilen und ist dennoch mindestens so mächtig als Ruszland, dessen europäisches Gebiet zehnmal gröszer ist. Groszbritannien miszt in Europa nur 5719 Quadrat- meilen und beherrscht von da aus seine viel gröszeren fernen Colonien und Nebenländer. Die Zahl der Bevölkerung ist ein sehr viel wichtigerer Factor bei Bestimmung der Macht eines Stats als der Gebietsumfang. Aber bedeutungslos auch für die Machtverhältnisse ist die Grösze der Länder doch nicht. Je weiter sich ein Gebiet ausdehnt, um so schwerer wird die Bewegung auf demselben und um so schwie- riger auch die Regierung desselben. Nur langsam kön- nen die zerstreuten Kräfte gesammelt, nur unvollkommen die entlegenen Provinzen von dem Centrum her bestimmt werden. Selbst die verbesserten Communicationsmittel der neuen Zeit können diese Schwerbeweglichkeit nur ermäszigen, nicht über- winden. Das geflügelte Wort kann blitzschnell an die äuszerste Peripherie versendet werden, aber es fehlt ihm der Nach- druck der gegenwärtigen Obermacht und das Verständnisz ist unsicher; es bieten sich vielerlei Ausflüchte, wenn der Wille des Empfängers der Depesche ungeneigt ist. Menschenmassen, Lebensmittel, Geräthschaften können auch mit den Eisen- bahnen nur langsam befördert werden und nicht überall hin in so weiten dünnbevölkerten Provinzen können Eisenbahnen hergestellt werden. Oft fehlt es sogar an den gewöhnlichen Fahrstraszen. Die Ausdehnung eines Statsgebiets ist schon deszhalb nicht immer ein Machtzuwachs. Ein Stat kann in Folge von

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Zitationshilfe: Bluntschli, Johann Caspar: Allgemeine Statslehre. Stuttgart, 1875, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bluntschli_staatslehre_1875/292>, abgerufen am 22.11.2024.